Lotte

Sommer. Sonne. Klimawahn? Klimakatastrophe? Iran-Krieg-in-Sicht-Krise? Volksparteien-Agonie? Her mit dem Idyll! Tauch mit mir ab in „bessere Zeiten“, als Probleme noch lösbar waren:

Back to the summer of love! Und back to Frohburg!

Seit ich denken kann, steh ich auf altes Zeug. „Du Altertumsforscher“ nannte mich Vater frühzeitig. Bleisoldaten waren anziehender als Plaste-Indianer. Aber ihre Zahl wuchs nur langsam und als sie endlich für ein ansprechendes Schlachten-Diorama reichten, war ich in der 6. Klasse und die „Spielzeit“ nahezu abgelaufen.

Günter, der klügste unter den Sitzenbleibern meiner Klasse, hatte Lineoltiere, -indianer und -soldaten. Letztere mit Pickelhaube und Stahlhelm. Dazu rot-blaue Franzosenfiguren von 1870/71. Beneidenswert. Unverkäuflich! Er kannte sich mit sowas aus. Leider. Schade.

Das Schielen bescherte mir nicht nur ein Pflaster auf dem linken Brillenglas und eine Augen-OP, sondern auch zahlreiche Fahrten zum Augenarzt nach Leipzig, die einige Male in Lützen unterbrochen wurden: Gustav-Adolf-Gedenkstätte. Drei Kolossalgemälde: Der König betet vor der Schlacht; der König im Getümmel, die Auffindung der Leiche des Königs nach der Schlacht. Eine Ritsch-Ratsch-Knall-Kriegskassentruhe und schließlich ein Zinnsoldaten-Diorama im Schloss.

Von daher hatte Omas Bodenkammer ihren Magnetismus. Die Schräge, die Balken, der abgeplatzte Putz, der Mauerwerk freilegte, die Spinnweben, drei große schwarze Truhen – buchstäblich alles schrie hier: Schatzversteck!

Irgendwann hatte sie mich mal mit auf den Dachboden genommen zum Wäsche aufhängen. Die Wäscheklammern lagerten in eben jener Bodenkammer. Sie schloss auf. Ich stand in der Türe – und: „Wooooow!“

Truhen! Wie in Lützen!

„Oma? Wassn da drinne?“

„Alter Krempl von früher, als unse Viere noch klein waren.“

„Und in dem Schrank?“

„Das ist ein Spind. Gibt’s heute nur noch bei der Armee. Kannste ma sehn, was wir für arme Leute warn, nachm Kriege. Das war unser erster Kleiderschrank, als wir hier ankamen und keine Möbel hatten.“

„Und was is drin?“

„Nix. Guckok rein.“

Verschlossen war er nicht. Ein paar Lappen, ein Blechabzeichen zu Ehren des ersten 5-Jahr-Planes der DDR, ein paar Münzen „5000 Mark“ von 1923.

„Sind die echt?“

„Warnse mal.“

„Kannich dafür Eis kaufen?“

„Nein. Nicht mehr. Die gelten nicht mehr.“

„Krieg ich die?“

„Wozu denn?“

„Als Spielgeld. Schatzgeld.“

„Na, wenn de meinst!“

„Gucken wir mal in die Truhen?“

„Nein. Hab grade den Schlüssel nicht mit. Später mal.“

Später mal. Wann ist das? Nachher? Heute Abend? Morgen vor dem Frühstück? Eine Stunde kann endlos sein – für einen 7jährigen!

Am nächsten Tag zu Mittag hatte ich Oma weichgebettelt und sie mich erpresst:

„Wennde heute zu Mittag wirst schön geschlafen haben, gehmer nauf. Aber schlafen! Hörste! Ohne Gezeter!“

Ich biss mir auf die Zunge. Nach dem Essen ging ich also diesmal ohne Kampfdiskussion ins Schlafzimmer, legte mich ins Bett und starrte einmal mehr „Jesus im Kornfeld“ an.

dav

Oma ließ einfach nicht locker mit diesem Scheiß-Mittagsschlaf! Als nach schier endloser Zeitspanne die Schlafzimmertür ging, stellte ich mich schlafend, ließ mich wecken und fragte blitzschnell:

„Gehmer jetz? Aufn Boden?“

„Erst trinkmer noch Kaffee.“

„Oooooch. Will kein Kakao.“

„Ä Stickl Kuchen wirst scho essen. Musst doch groß und stark wern. Dirrrländer du!“

War nix zu machen. Oma verzögerte das Wiedersehen mit der Schatzkammer.

Dann war’s endlich soweit. Oma öffnete die Kammertür. Der Schlüssel war groß und alt. Der Kerkermeister von Ritter Runkel kam mir in den Sinn. Der hatte einen ganzen Ring solcher Unikümer am Gürtel hängen. Ich stürzte siegesgewiss hinein und kletterte auf die erste Truhe vor dem Kammerfensterchen um hinauszugucken.

„Ooooor! Ist das hoooooch!“

„Ja aber das Fenster bleibt zu! Hearst?“

„—-“

„Hear ogke! Sonst gehmor gleich wieder runter!“

„Ja“, und Augen verleiern. Oma war auch in der Wohnung unten von der fixen Idee besessen, ich würde prompt aus dem Fenster fallen, sobald ich nur einem zu nahekam.

Zwischen den Truhen stand – SIE: Eine Plüsch-Kuh auf 4 Rädern. Eine Achse zwischen den Voderbeinen, eine zwischen den Hinterbeinen. Der Rücken stark durchgebogen.

„Das is Lotte. Auf der is deine Tante Gisa geritten.“

„Könnwer die mit runter nehm?“ und eh irgendein Bedenken von erwachsener Seite kommen kann, setzte ich lieber gleich noch nach: „Die braucht Hilfe. Guck mal – der Rücken.“

„Ja. Der ist gebrochen. Vielleicht heilste den ja wieder, so als kleiner Tierarzt.“

Totsicher!

Ich hatte die Kuh bereits unterm Arm, da fiel mir beim Rundblick auf die 3 großen Truhen wieder Lützen ein.

„Oma?“

„Was ist denn noch?“

„Könnwerma in sone Schatztruhe gucken?“

„Da sind keine Schätze drin. Das sind Koffer. So reiste man früher.“

„Oma! Du willst mich veräppeln!“

„Wieso?“

„Wer solln die tragen? Opa ist zwar groß und dick, aber drei of eehmal krichd der ooch nich weg.“

„Musste er auch nicht. Früher gabs dafür Fuhrknechte und auf den Bahnhöfen Gepäckträger.“

Ich schüttelte allwissend den Kopf. Vermutlich redet Oma grade „wunderlich“ wie Großmutter manchmal.

 

 

Gepäckträger sind so Drahtvorrichtungen an Fahrrädern. Und bei Oma liegen nun die Bahnhöfe voller abmontierter Gepäckträger und das hilft Truhen in die Waggons zu wuchten? Das ist Quatsch! Aber nicht verärgern. Immerhin darf ich ja schon die Kuh retten.

Also diplomatisch:

„Aha. — Guckmer numa rein in so einen „Koffer“? Nur in einen! Ja? Bütttö!““

Oma guckte nun wieder ganz gewitzt und holte aus der Schürzentasche noch so einen Kerkerschlüssel, steckte ihn bei der am freiesten stehenden Truhe ins Schlüsselloch und schloss…

Ich wartete auf den Schließkrach, aber die Truhe ließ sich geräuschlos öffnen. War ja auch keine Kriegskasse, wie in Lützen. Schade. Deckel hoch: Lauter zusammengelegte Laken oder Tischdecken.

Oma wollte den Deckel gleich wieder zukippen, da hing ich schon drin und grub mit beiden Händen zwischen den Stapeln. Ich war drauf und dran, ausräumen zu wollen, um „der Sache auf den Grund zu gehen“, aber Oma befahl:

„Schluss! Das wirbelste mir nich ausnander! Da is nüschd dunter, glaubsok nur!“

Sie zog mich Fliegengewicht weg und rumms knallte der Deckel zu.

„Reicht für heute. Du musst die Kuh noch füttern.“

Stimmt.

Truhe und Kammer wurden verschlossen und ich kümmerte mich um Lotte.

Zu diesem Zweck eilte ich in den Garten, riss ein paar Grasbüschel mit Löwenzahn heraus und wollte die Kuh füttern.

„Halt mal!“ fing mich Oma im Flur ab.

„In die Küche! Das musste erschd putzen! Dreck frisstse nee!“

Mist! Stimmt och wüddor.

In der Küche wurde das Wurzelwerk samt eventueller Ameisen abgeschnitten und dann das Grüne neben dem Sofa auf die Dielen geschmissen, direkt vor Lottes Maul.

„Oma! Wir müssn in die Stadt. Knete kaufen.“

„Wieso’n das?“

„Na sie frisst ja. Da wirdse bald scheißn. Da muss ich’n Fladen basteln.“

„Hm. Brausde nee.“

„Darf ich Eierpampe nehm?“, aber ich korrigierte mich gleich selber: „Auf den saubern Dielen?“

„Von Tante Gisa is noch Löschpapier im Schreibtisch. Spring ok hie. Das is braun, das knüllmer und legns hinter sie.“

„Aber Kühe scheißn dunkelgrün.“

Das Gespräch machte richtig Spaß, denn wenn es um tierische Verdauung ging, dann durfte man ungestraft das „schlechte Wort mit Sch“ verwenden und man bekam keinen Klaps auf den Mund!

„Dann malste die Kacke halt noch an mit Tusche.“ Nun hatte sogar Oma „Kacke“ gesagt! Der Tag war Spitze!

„Okay.“

Ich suchte die Löschblätter. Knüllte sie. Glättete sie wieder. Wollte eigentlich schon Pinsel und Wasserglas holen, aber – dann kam mir der rettende Gedanke:

„Oma?!“

„Ja?“

„Ich mal die Kuhkacke nicht an.“

„Warum nicht?“

„Wenn Vati mich abholt, frag ich ihn, bei welcher Krankheit Kuhscheiße braun wird. Da gibt’s bestimmt eine. Da pansch ich jetz‘ nicht mit dem nassen Pinsel rum.“

„Ja, lieb von dir.“ (Siehste! So wurde mein Anfall von Ferienfaulheit noch gelobt.)

Ich untersuchte die Kuh. Schob man die beiden Radachsen aufeinander zu, machte sie einen Rundrücken; ließ man los, rollten die Räder wieder auseinander und Lotte wurde ein plüscherndes „U“. Nix zu machen. Ich hob ihren Schwanz. Da war eine Naht zuende und ein winziges Loch, in das mein Finger passte.

Nachgeburt entfernen – ließ sich mit ihr also auch spielen!

Sie war die Attraktion des Sommers 67.

Dann sollte es wieder nach Hause gehen. Vati kam, sah die Kuh und sprach:

„Notschlachten. Aber schnell.“

„Nööö!“ protestierte ich, „die will ich rettn!“

„Quatsch. Rückgrat durch. Die verreckt elende, wennde se nich lässt schlachtn.“

„Die nehmer mit nach Naumburg und die wird gesund!“ Visier runter, Bock fährt hoch!

„Das verstaubte Ding? Da ham jetzt 10 Jahre die Mäuse draufgepisst! Das kommt nich‘ in de Tüte und scho gar nich‘ ins Auto.“

Drama ante portas!

Oma schritt ein: „Lasse hier, ich pflegse für dich. Wennde wiederkommst, wirdser besser gehen.“

„Wirklich?“ Erwachsenen ist nicht zu trauen! Kaum bin ich weg, ist die Kuh entweder wieder in der Bodenkammer oder gar im Müll!

Aber Oma legte mir mitfühlend die eine Hand auf die Schulter und in der andern Hand hatte sie ca. 50 000 Mark in bar. Die Münzen!

„Hast ja noch DEN Schatz. DEN nimmste mit.“

Hach! Auf Oma war Verlass!

Wie sehr – das zeigte sich beim nächsten Besuch ein paar Wochen später.

Ich aus dem Auto raus, die Treppen hoch, Sturm klingeln

„Aufmachen! Tierpolizei!“  —- „Wo is‘ Lotte?“

Die stand neben dem Sofa. Frisches Grün vor dem Maul. Der „Stall“ war „frisch ausgemistet“, denn die Löschblattkacke war weg. Das beste aber war: Um alle 4 Beine hatte sie Paketstrippe, so dass die Räder nicht mehr soweit auseinander konnten. Der Rücken war grade. Lotte war GESUND!

6 Gedanken zu “Lotte

  1. Die Freiheit sich mittels hochmoderner technischer Geräte Informationen zu beschaffen ist heute grenzenlos. Das Gefühl von Freiheit entsprechend unendlich. Der Plan des Ganzen ist im Hirn eines jeden festgelegt. Die bildnerischen Darstellungen von Menschen, die daraus den Kopf herausstrecken, liegen schon lange zurück.

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  2. Eine schöne Lotte Geschichte !
    Und bei dem Jesus Bild musste ich schon schmunzeln…genausowas hing bei meiner Oma auch im Schlafzimmer, im vergoldeten Rahmen und gefühlt 2×3 Meter…schritt Er durchs Kornfeld gerade auf mich zu…ob Er wohl meine Gedanken lesen konnte ? Mittagsschlaf war auch obligatorisch, unter 3 dicken Daunenbetten, ich hatte immer Angst irgendwann da nicht mehr raus zu kommen,….Jetzt gibt es die Oma nicht mehr und ich ärger mich heute noch das ich das Bild nicht vor dem Sperrmüll retten konnte…Grüsse von Jürgen

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