Diesmal 5 Werke für „zwischen den Wahlen“; alt aber aktuell geblieben bzw. wieder geworden:
- Hermann Hesse „Steppenwolf“ – die gelebte gesellschaftliche Totalverweigerung und bürgerliche individualistische Sinnsuche, die in die Sackgasse, resp. den Drogenrausch führt. Ein Endzeitbuch, verfasst von einem manisch depressiven Narzissten, der wohl gerade deshalb den (fast) totalen Durchblick hatte und sich auch traute, die Ergebnisse zu formulieren. Kurioserweise seinerzeit in den 60ern durch die Hippies der Vergessenheit entrissen und Kultbuch geworden. Der Stoff passt prima und systemunabhängig in die „angry young man“-Phase am Ende männlicher Pubertät, oder aber, wie vom Autor nachträglich erklärt, in die Midlife Crisis – und — in Zeiten wie unsere, in der das ungute Gefühl heranwächst, dass die bisherigen Lenker mit ihrem Latein am Ende sind und neuen Lenkvereinen geeignetes Personal fehlt.
- Hermann Hesse zum zweiten „Das Glasperlenspiel“ 1948 Nobelpreis geadelt; galt einst als das Buch zum Crash von 1945; der Schwanengesang der bildungsbürgerlichen Epoche. Er erfindet eine intellektuelle Elite, die sich in einer Art „Könner-Ghetto“ mit einem Glasperlenspiel beschäftigt. Der Sinn besteht darin, alles mit allem zu verknüpfen: Mozartharmonien in Wochenschauaufzeichnungen von Trommelfeuer nachzuweisen; binomische Formeln in Mendelschen Gesetze usw. Eigentlich kotzt der altgewordene Schulverweigerer seinen eventuell noch lebenden Lehrern und angepassten Klassenkameraden die Nutzlosigkeit ihrer Bildungskarrieren vor die Füße: „Was wart ihr schlau! Doch habt ihr was verhindert?“ Es entsteht ein Berg an Kenntnissen, der letztlich zu nichts führt, da die Kenntnisse „draußen“ in der Praxis entweder gar nicht oder grundfalsch verwendet werden. Das Buch entfaltet seinen Reiz vor allem, wenn man es während eines Studiums liest, inmitten der unübersehbaren Weltfremdheit der Einrichtung und ihres Personals. Der Protagonist ist der gebildetste seiner Zunft, kapiert die Abgehobenheit und Abgeschiedenheit seines Tuns, will „hinaus ins Leben“; verzichtet also auf alle Privilegien – wird Hauslehrer und ertrinkt beim Versuch seinen Schützling zu retten. Ein Alleswisser, dem die elementaren Grundlagen der einfachen Überlebensstrategien fehlen. Das ist nicht zuviel verraten, denn es sind 3 Lebensläufe angehängt, die jeder Glasperlenspieler von sich schreiben muss, nachdem er sich in sich selbst versenkt – und die haben es in sich! Diese 3 Anhängsel alleine wären schon einen Nobelpreis wert gewesen.
- Stefan Heym – er schien vergessen, der von der ARD hofierte, böse, alte Beobachter der DDR-Defizite von innen. Wer sollte sich dafür nach 1989 noch interessieren, da sie doch nun zur „Fußnote der Weltgeschichte“ (Heym) verkommen war? Aber lies dieser Tage den „König David Bericht“ (1972) und erschrick, wie aktuell er plötzlich wieder ist.
In biblischer Zeit verdonnert König David im „Morgen“land einen Künstler zur Abfassung eines „objektiven“ Berichtes über seine königlichen Heldentaten; und erwartet selbstverständlich ein unumwundenes Loblied. Die Schwierigkeiten des unabhängigen Denkers in der Diktatur von einst wanken zombihaft durch deine Räume: Die sterblichen Überreste von Brecht oder Heiner Müller mutieren zu „Reichsbürger“ Xavier Naidoo oder „Pegidist“ Uwe Steimle. Aus den warnenden Höflingen, in denen du früher FDJ-Bonzen, ZKler, Rezensenten der „Jungen Welt“ zu erkennen glaubtest, werden heute … Alter Schwede! Da ist dir aber ein Wurf gelungen! Damals. In den 70ern. Stefan Heym. Geboren in Chemnitz.
- Winfried Völlger setzt noch einen drauf mit seinem One Hit Wonder von 1983 „Das Windhahn-Syndrom“. Student mit herkömmlich harmloser Studienrichtung liebt Studentin, die das Glück hatte, einen Platz in einer Studienrichtung zu ergattern, die sie anschließend berechtigen wird, immer mal wieder die DDR ins NSW (Nichtsozialistische Weltsystem) verlassen zu dürfen.
Von der ersten solchen Reise kehrt sie unheilbar krank zurück. Ihr Problem sind unkontrollierbare Lachkrämpfe, immer dann, wenn… Stopp! Nicht spoilern! Am Ende des Buches gibt’s eine Tierfabel, die es in sich hat, und die den seltsamen Buchtitel erklärt. Winfried Völlger, heute ein schon sehr alter Mann, lebt inzwischen als Straßenmusikant in Leipzig. Er hat eins der klügsten Bücher über die DDR geschrieben; oder aber auch über Menschen, die sich von antrainierten Weltbildern verabschieden, wenn sie die Welt um sich her mit offenem Blick und ohne Scheuklappen wahrzunehmen beginnen.
- Sei an einen Klassiker erinnert: Hans Christian Andersens modebewusster Kaiser (1837), der auf Scharlatane hereinfällt, die ihm einreden, dass sie saubere Dieselmotoren entwickeln können, oder Superwaren herstellen, die nur kluge Leute sehen könnten, wenn ER die Kosten übernimmt; und der Dussel fällt drauf rein. Eines Tages war er nackt. Und die Schwindler feierten auf den Cayman Islands bis zum finalen Zunami. Aber wenn sie nicht gestorben sind, dann sind sie heute…
Großartig!!!
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Na, bin ich froh, dass mir nur eins entgangen ist.
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Welches denn? Ich tippe auf Völlger?
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So ist es. Aber nicht mehr lange.
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Damals in den 60er Jahren gab es etliche Jugendliche, die sich als Harry Haller fühlten, und die ganze Zeit so taten, als wären sie eine Romanfigur.
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Globick gerne. Ging mir nach der Lektüre ähnlich. 🙂 Anfang der 80er.
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Ich liebe diesen Harry Haller … auch heute noch! Leider waren unzählige Versuche umsonst, das Glasperlenspiel hat sich mir nicht erschlossen, aber bin froh, daß Du es hier ansprichst, ich werde einen weiteren Versuch starten! Liebe Grße
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Zustimmung beim Steppenwolf. Beim Glasperlenspiel hingegen . . naja, Thomas Mann als den Vorgänger Magister Ludi Thomas von der Trave vorzuführen, oder den Cousin(?) Feinhals als Collofino…viel Schwulst. Aber als Lektüre während des Studiums geht das Werk noch durch.
Da fällt mein Blick ins Regal neben mir: Pennington, George: Kleines Handbuch für Glasperlenspieler. Irisiana Verlag, Haldenwang. 1981. 103, VI S.
Schönen Dank hingegen für den Hinweis auf Herrn Völlger, der mir bis heute unbekannt gewesen ist. Das empfohlene Buch ist bereits geordert.
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Tja. Hab das Glasperlenspiel 1984 und ca. 2001 gelesen. Das ist ne Weile her. Deshalb sind mir deine Thomas Mann- und Feinhalsbezüge grade spanische Dörfer. Mein Highlight aus der Langzeiterinnerung heraus ist, dass die Hauptfigur stets die Distanz gewahrt hat: Diese dargestellte Zerissenheit: Einerseits willst du dahin, ins Spielerghetto; freust dich über Anerkennung von Koryphäen; aber, wenn du drin bist, schüttelst du pausenlos den Kopf über jene Wunderlichkeiten, die auf einmal den Reiz verlieren, anfangen schaal zu wirken, gar nicht mehr so erstrebenswerte Genieleistungen sind. Und dann noch der „Indische Lebenslauf“ des Eremiten am Schluss! Schnalz!
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Hermann Hesse war mal mein Hausautor, im Sinne Arno Schmidts. Also auch die Sekundärliteratur studiert. Viele Namen im Glasperlenspiel sind verklausuliert. Ferromonte = Isenberg, das gabs einen Halbbruder Hesses von der mütterlichen Seite her. Von daher also habe ich mir da nichts ausgedacht. Das kann man nachlesen. Inzwischen vielleicht sogar online.
Die Zwiegespaltenheit Josef Knechts ist nicht zu übersehen, bzw. zu überlesen. Insofern ist das ja eines der Grundthemen von Hesse. Hier die Kunst und das entsprechend isolierte Leben des Künstlers und dort die verführerischen Niederungen des bürgerlichen Lebens. Das beginnt meiner Erinnerung nach mit Klein und Wagner, wird fortgesetzt im Steppenwolf, missglückt abgearbeitet bei Narziss und Goldmund und letztendlich hochgeschraubt im Glasperlenspiel. Selbst in der Morgenlandfahrt hat der Autor keinen Ausweg aus diesem (immanenten ?) Dilemma gefunden.
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Hesse war noch nie mein Ding, vielleicht bin ich zu alt dafür 😉
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Hey! Man ist nie zu alt für Hesse. Willkommen übrigens.
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Ich wollte sagen, Hesse ist mehr so für die Jugend, 17 – 20. Irgendwann ist man dann drüber, über dem Alter und weg über Hesse.
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Bin da anderer Meinung. Hab ihn mit anfang/mitte 20 gemocht und um die 40 dann zum zweiten Mal gelesen (Steppenwolf und Glasperlenspiel) und fand es wieder/ aber aus anderen Gründen – top!
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Aber Heym, immer wieder gern
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Völlger sagt mir gar nichts, ich schau, ob ich das nachholen kann. Schöner Blog übrigens!
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