Die Sonntagsredner sind los! Man will uns glücklich labern. Und natürlich belehren, wie immer. Nur, wie das so is‘ mit der Indoktrination: „Et wüad halt nix helfen.“ Die Ursachen für die schlechte Stimmung sind bekannt und auch mehrfach in den Medien an anderer Stelle und zu anderen Zeitpunkten aufgetaucht, bzw. als Buch, Taschenbuch und E-Book erschienen. Phönix brachte bis gestern noch mal den sehr gut gemachten 3-Teiler „Brauchen wir den Osten?“ Nee, vermutlich braucht uns der Westen nicht. Diesen Rest, der hier noch übrigblieb. Mezzogiorno, ragged ol’south east, fly over States. That‘s Schicksal. Bleibt: Die künstlerische Verarbeitung. Chamisso-Influence meets Johnny Cash.
Wer beim Lesen an Johnny Cashs „Ragged ol‘ Flag“ denkt, liegt richtig.
Die schäbige alte Fahne
Als ich neulich wieder durch die Altstadt ging
Mein Blick sich in einem Fahnentuche verfing
Es war löchrig und fleckig, blass und angefressen
So als hätte man langzeit es ganz vergessen
Aber es wehte aus einem Fenster heraus
Darunter ein Greis, der ruhte sich aus
„Hallo Verzeihung“, sprach ich ihn an
Und bat um Erklärung, worauf er begann:
Unter dieser Fahne wurde viel vollbracht
Und sie wurde bewahrt in langer Nacht.
Es war das 18-null-8ter Jahr
Das hier herum eine Idee gebar
Die Franzosen waren zur Plage geworden
Es endete nicht das ewige Morden
Doch Lützows wilde verwegene Jagd
Ehern aus all den Duckmäusern ragt,
Die bieder Franzosenwünsche erfüllen
Sich gar lassen gen Russland mustern und drillen.
Die Fahne war an der Katzbach dabei
Auf dem Schlachtfeld von Leipzig wehte sie frei
Dann aber wurde sie wieder versteckt
erst zum Fest auf der Wartburg wiederentdeckt.
In Hambach, Frankfurt und schließlich in Baden
Hat man unter ihr große Pläne beraten.
Stolz sollte sie wehen, über dem Land
Doch alles kam anders, das ist ja bekannt.
Karl Ludwig Sand, Robert Blum, Fritz Hecker sogar
Entschlossene Kerle, aber es waren nur paar
Heine und Herwegh auch unverdrossen
Doch die Fahne der Freiheit ward weggeschlossen.
Jahrzehnte in Kellern, auf Böden versteckt
Ist sie zwischen Kartoffeln und Kohlen verdreckt.
Schwarz-weiß-rot stürzte sich ins Kampfgetümmel
Stattdessen das „Volk – der große Lümmel“.
Als anno’18 brach die „schimmernde Wehr“
Zerrte man schwarz-rot-gold wieder her
Doch kein Schill, kein Lützow, oder Blücher gar
Machten die Auferstehung wahr
Es kam nur der mit dem kurzen Bart
Da wurden die Zeiten wiederum hart
Die Fahn’ wandert’ abermals ins Versteck
Zwischen Mausefallen und Rattendreck.
An nem hellen 45er Maienmorgen
Hab ich sie aus dem Schutt geborgen
Und drüben an die Ruine gehängt
Damit man nicht wieder parliert – sondern DENKT!
Doch wiederum ist nichts draus geworden
Man duckte sich weg und schwieg von den Morden.
Immerhin von nun an sich eines verbot:
Die Verherrlichung von schwarz-weiß-rot.
Im Westen hatten sie schnell wieder zu fressen
Und die Brüder und Schwestern war’n bald schon vergessen.
Schwarz rot gelb täuschten nun zwar neue Fahnen
Auf den Fabriken und Autobahnen.
Goldene Zeiten für eine handvoll Leute
Mit Schweizer Konten aus Zwangsarbeitsbeute
Die sehnten sich Weimarer Zeiten zurück
Kungelei, Schampus, Schmiergeld – das ist das Glück!
Im Osten baute man ebenfalls auf
Ich glaubte an Zukunft und freute mich drauf
Bis der Juni 53 kam und mir die Illusionen nahm
So holte ich die Fahne schnell wieder ein
Ich war ja kein Lützow. Ich war allein.
Als ‘89 der Taumel begann
Da macht’ ich die Fahne wiedermal an
Sie sollte eine Mahnung sein
Fallt nicht wieder auf falsche Versprechungen rein!
Nehmen wir’s Schicksal in die eigene Hand!
Gestalten wir uns unser eigenes Land!
Wohl entstanden viele bunte Fassaden
Doch dahinter zu oft die alten Tiraden
Da fiel mir Bismarck ein vorzeiten:
„Dieses Volk kann einfach nicht reiten!“
Der alte Zyniker besiegte einst
Nicht nur die Franzosen, wie du ja weißt,
Sondern auch die eignen Heloten
Die sich demokratisches Denken verboten
In schwarzer Knechtschaft brach Lützow einst auf
Kämpfte, verlor und ging blutig-rot drauf
Eine goldene Zukunft sollte entsteh’n
Doch Gelb ist am blassesten – kannst du’s seh’n?
Ich sah nach oben ins schäbige Tuch
und begriff mit eins den symbolischen Fluch
der in den verblichenen Farben versteckt’
zum gigantischen Mittelfinger sich reckt.
Klasse! Aber ich glaube, der Kamerad von Sand und Blum hieß Hecker und kämpfte später auch unter Cashs ragged ol‘ flag. Fritz H(a)eckert kam später. Da fällt mir ein Spruch ein, der in der DDR gelegentlich bei der Ablehnung von Sonderwünschen fiel: „Wir sind doch hier nicht auf der ,Fritz Heckert‘!“
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Mist. Hast recht. Verwechselt, weil er in alten Quellen auch Haecker geschrieben wurde.
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Ich glaube, man sollte gar nichts löschen. Vor allem nicht, wenn dokumentiert wird, dass Menschen noch richtig selber denken.
Grüße aus Budapest, wo die Welt noch die ‚alte‘ ist.
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Wieso die ,alte‘? Kammor da im Lemezbolt immor noch Westplattn koofn, ooch in dor preiswertorn Wariante von Jugoton? 😉
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Da warich noch jarnich. 😊
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Man hat hier jedenfalls dieses Sicherheitsgefühl, was einen auch nach 23:00 Uhr auf der Donaupromenade lustwandeln lässt.
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Ich wär schon zufrieden, wenn ich Omega“ Kissstadion’79“ und Skorpio „Kelij fel!“ endlich auf CD bekäme. Westbladdn müssdns nichema sein!
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Um einmal auf die Zahl 1107 zurückzukommen. Sie besagt – und das habe ich mal kurz wikipediert – dass die Gründung des Deutschen Reichs mit der Inthronisation von Konrad dem Jüngeren zum König von Ostfranken erfolgte. Das war im Jahre 911 (2018-1107=911). Das Ganze fand vom 7. bis 10. November statt. Da kommt der 9.11.911 ins Spiel (ob julianisch oder gregorianisch sei einmal dahingestellt). Das ist ja sowas von Nine Eleven! 😮
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Jau passt.
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„Nee, vermutlich braucht uns der Westen nicht.“
Mensch Bludgeon, wo ist dieser herrliche Blog gelandet?!
Nein, ich brauche den Osten nicht. Aber ich brauche auch Ober- und Niederbayern nicht. Und Deutschland auch nicht. Ich brauche die Welt, die Menschheit, die Sprache. Ich bin hoffnungslos linksgrünversifft.
Aber immerhin war ich noch in keiner deutschen Stadt, in der ich mich nach 23 Uhr nicht mehr flanieren getraut habe. Einzige Ausnahme: Cottbus. Die einzige OSTdeutsche Stadt, in der ich je am Abend unterwegs war. Vielleicht kein Zufall. Jedenfalls fürchte ich mich mehr vor bunten Hähnchen als vor bunten Geflohenen.
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Watt? Cottbus, die einzige ostdeutsche Stadt, in der du abends unterwegs warst? Beim Schwindeln ertappt! Ich erinnere mich da an eine Telefonzelle auf einem dunklen Marktplatz – in so ner Weinberggegend mit Reformgeschäft und Theater…. 🙂
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…und einem aufmerksamen Beschützer, der an Angst gar nicht denken ließ.
Trotzdem habe ich eine Beklemmung über der Stadt gespürt.
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Liebe Leserin, ein sehr schöner Kommentar. Meiner Einschätzung nach geht er allerdings etwas am Thema vorbei. Ich denke, der Hausherr wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus, unter anderem die Sicht des „Westens“ auf den „Osten“ von der Zeit der Wende bis heute und auf das Gefühl, dermaßen betrachtet zu werden.
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Yepp. ich finde dass zur Zeit die falschen Diskussionen laufen. Aber absichtlich gesteuert. Man will höheren Ortes nicht an die heißen Kartoffeln ran, lieber Maximalprofite nochmal maximieren, Bangladeshige Produktionsbedingungen und -entlohnungen hier auf/und ausbauen und greift einmal mehr zu einem unseriösen Internationalismus, den bitte alle glauben sollen, die sich für Gutmenschen halten. Kenn’werschon. Funzt nicht.
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Klar laufen die falschen Diskussionen. Und klar sind sie gesteuert. Wie unsere Ängste, unsere Bedürfnisse, unsere fb-accounts, unsere Gehirne.
Trotzdem glaube ich, dass wir weg müssen von Grenzen und Barrieren. Letztendlich sind wir nur gemeinsam stark. Erst recht gegenüber jener Handvoll Menschen, die die Fäden in der Hand haben. Und für mich heißt das, ich übernehme zuallererst mal nicht irgendein Feindbild.
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Übrigens, am Samstag fahre ich mal wieder in die Hauptstadt (ost) und besuche meinen Ostmann. Und wie immer wird mir am entsprechenden Durchreisebahnhof warm ums Herz werden.
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Weiß schon, Herr oder Frau Progger. Trotzdem.
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(An der falschen Stelle gelandet. Ich kommentiere nicht mehr so oft…)
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„Unseriöser Internationalismus“ ist ein schönes Wort 🙂 Ich hoffe, ich merke es mir. Da fällt mir spontan Gerhard Polt´s Kommentar zum Standort Deutschland ein:
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Herrrrrrlich. Und schon so alt – und soooooo aktuell!
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Mir wurde nicht warm ums Herz, denn der Zug nimmt jetzt eine andere Schiene 😦
Aber ich war zum ersten Mal in Frankfurt/Oder. Nach meinem Gefühl liegt dort keine Beklemmung über der Stadt. Nicht mal in der Nähe des ehem. Knastes. Irgendwas muss dort grundlegend anders laufen, als in allen ostdeutschen Städten, die ich vorher besucht habe; immerhin acht.
Allerdings ist mir ein Rätsel, wie eine Stadt, in deren Sanierung so viel Geld geflossen ist, so hässlich werden konnte.
Geomantisch gesehen aber, ein Ort mit beeindruckender Kraft!
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