Wir 78er (II)

Der 2.Juni 1967 – nun mehr 50 Jahre her – war, aus den Augen eines damals 7jährigen betrachtet, einfach ein Sommertag am Ende der Kindergartenzeit, kurz vor der Einschulung und – im Falle des kleinen Dakota – auch noch kurz vor dem Umzug aus der Mietwohnung ins Eigenheim. Letzteres Gott sei Dank knapp einen Kilometer weg von der alten Wohnung, sodass Udo und Connie erreichbar blieben.

Beim Durchblättern der NBI oder der Für Dich, wie immer auf der Suche nach Witzbildern, deren Sprüche dem kleinen Dakota dann vorgelesen werden sollten, taucht immer wieder dieses Foto auf:

Eine schöne Frau, die einfach so dahockt und nicht zum Fotoapparat schaut und die auch noch in der LDZ abgebildet wird. Vor ihr liegt einer auf dem Rücken und scheint sich schlafend zu stellen.

„Wer issn das?“, frage er also einen der beiden Erziehungsberechtigten, der gerade greifbar war.

„Das isso einer wie Philipp Müller. Den hat die Polizei drühm erschossen.“

Philipp Müller sagte einem Siebenjährigen damals natürlich auch nichts, aber die LPG am Ortsausgang hieß so. Der war dem Dakota aber auch wurscht. Er meinte die Frau!

Irgendwas geht vermutlich bei kleinen Möchtegern-Indianern in der Akzeleration gewaltig schief, denn Geschlechterbewusstsein soll doch eigentlich erst ab der Pubertät eine Rolle spielen – und die beginnt nun mal nicht mit 7! Aber die schönen Beine seiner 25jährigen Tante waren ihm seit geraumer Zeit aufgefallen und deren Gesicht und Frisur ähnelte der Frau auf dem Bild stark.

Da jedoch über SIE nun nichts zu erfahren war, ging die Fragerei auf IHN über.

„Was hattn der gemacht?“

„Der hat die Polizei geärgert und die hat halt geschossen.“

Restzweifel blieben, denn der Mann da schien zu lächeln, weshalb der Dakota eher an so ein Rollenspiel geglaubt hatte: Schneewittchen verkehrt rum. Sie spielt eine von den Zwerginnen. Denn die Begeisterung für das Aussehen seiner Tante rührte ebenfalls von einer Märcheninszenierung her. Beim Schatzsuchen in Omas Wohnung hatte er ein altes Foto gefunden: Seine Tante mit 16 als Julia in einer Shakespeare-Schulaufführung.

„Dürfen diedn das?“

„Klar. Issja Polizei. Die solln ja für Ordnung sorgen.“

Beim Dakota kollidiert das jetzt gewaltig mit den Volkspolizisten vom Knast, die die Kindergartengruppe am Tag der Volkspolizei so nett mit Keksen bewirtet hatten. Seine Miene verfinsterte sich zu einem einzigen Fragezeichen. Vati erkannte Klärungsbedarf.

„Issja ooch drühm passiert. Die schießen schneller wie hier.“

Uff. Na dann – schien alles gut.

„Drühm“ – das is‘ Kassel, da wo es Kaba (mit Micky Maus Reklame) und eiserne Zündplättchen-Colts gibt.

11 Uhr 15 bin ich da!

Wumba-Wu aus Afrika…

…Kaba, der Plantagen-Trank!

Alle rufen: Gott sei Dank!

(Walt Disney; Kaba-Reklame-Streifen, DinA 5, doppelseitig, direkt aus der Packung)

Irgendwo weit weg also. Da fahren alle Rentner hin, wenn sie rüstig sind und bringen diese Dinge dann mit – vorausgesetzt sie bleiben nicht für immer da.  Alle, die er kannte, hatten Verwandte in Kassel. Die halbe Stadt dort musste aus Saaletalern bestehen, die „nachm Kriege abjehaun“ waren. Erst neulich hatte sich eine der alten Omas aus Großmutters Rommé-Kränzchen „für immer“ nach Kassel verabschiedet.

„Hamm wir ooch Verwandte in Kassel?“

„Wie kommst’n da drauf? Nee, in Wiesbaden.“

Schade. Man konnte aber auch mit gar nichts mithalten!

„Is’das ooch drühm?“

„Ja“.

Das Thema 2. Juni war somit erschöpfend geklärt. So schien es…

Mit 11 oder 12 begann am Wochenende das Abendsaufbleibendürfen. Kessel Buntes, Rudi Carrell Show, Einer wird gewinnen…. Komödienstadel oder Ohnsorg-Theater gucken.

Inzwischen war das Foto von 1967 immer mal wieder in den Zeitungen gewesen und der älter werdende Dakota hatte erfahren, dass das nicht Philipp Müller war, der da lag, sondern Benno Ohnesorg. Somit war es für ihn Normalität, das Heidi Kabel der Laden da im Fernsehen gehörte, denn der Theater-Erbe war ja bekanntlich seinerzeit von der Polizei erschossen worden.

Die 68er waren in seiner Altersgruppe als solche kein Thema. Das war ein ganz komisches Westthema, was im Osten – ob alt, ob jung – niemand so recht verstand. Irgendwie wollten die den Faschismus rückwirkend bekämpfen, so schien es. Und dann noch dieses Gerede von antiautoritärer Erziehung! Da „wollten die Brötchen den Bäcker stürzen“!

Der erwachsene Dakota hat inzwischen diesbezüglich, nicht zuletzt durch diesen hervorragenden Beitrag im Ärmel-Blog, dazu gelernt. Viele, viele Zeitgenossen, die man nicht beruflich auf diese Materie stieß, jedoch nicht; und so bleibt es vermutlich bis in alle Ewigkeit DAS Thema der Ost-West-Dissonanzen der Kinder des Kalten Krieges.

Der Osten hatte ein eigenes 68. Proteste gegen den Einmarsch in die CSSR. Jedoch war dieses Phänomen eine pure Randgruppegeschichte in einigen Universitätsstädten gewesen; medial im Osten totgeschwiegen und im Westen (wegen der eigenen Aufregungen dort) weitestgehend übersehen. Außerdem fehlte es an Ikonen: Hier spielte kein Puhdy die Nationalhymne kombiniert mit Bombergeräuschen, Chris Doerk und Frank Schöbel veranstalteten kein Bed-In im Leipziger Astoria-Hotel und Arndt Bause hatte für Andreas Holm „7x Morgenrot, 7x Abendrot“ ganz und gar ohne Drogenbotschaft gereimt… blau blieb die Nacht.

Der Westen dagegen hatte für seine Studentenunruhen einen geilen Soundtrack entstehen lassen: Hendrix, Burdon, Who, Stones, Scott McKenzie, Donovan, … – das volle Programm. Das wanderte Mitte der70er alles via Oldiessendung auf die Kassetten der Nachgeborenen, als schöne Schwärmereien ohne politischen Bezug. Vergangenheit. Days of Pearley Spencer irgendwie.

A tenement, a dirty street
Walked and worn by shoeless feet
Inside it’s long and so complete
Watched by a shivering sun…

Die gefühlige Ergänzung zum Glam-Rock der Mit70er.

Die eigene Bewusstseinserweiterung musste von selber kommen und sie musste mit dem „heute“ zu tun haben. „Woodstock“ war 1975 schon gestern.

Regenbogen hatten zur 950-Jahrfeier ein Fenster aufgestoßen: 2 Stunden Konzert; davon nur 3 eigene Titel, also 10 Minuten Spielzeit; dann 30 Minuten Stones-Medley (die 1978 offiziell noch immer niemand kennen durfte, wegen Waldbühne’65); und dieses Medley NACH 22:00 Uhr! In Anwesenheit der FDJ-Kreisleitung des Saaletals! So sieht Revolte aus! Jedenfalls im Osten. Drei Jahre nach dem Renft-Verbot.

15 Gedanken zu “Wir 78er (II)

  1. Schon interessant. Hm. Manchmal frage ich mich, ob die Differenz Ost-West die größere war oder die der Generationen. Ein wenig jünger bin ich unter einem großen RAF Schatten aufgewachsen, gefolgt von atomarer Aufrüstung und Waldsterben, dann Tschernobyl. Ein Angst-Domino. Musikalisch ABBA, Boney M., Smokie, 80s…
    Grüße.

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    • Das Generationen-Ding treibt mich auch um. Isses immer nur der gleiche Lebenszeitvorsprung oder sind es die Zeitumstände? Wirken 68er oft so naseweiß-unfehlbar, weil sie 68er sind – oder geht es jedem so mit ca. 10 Jahre älteren Brüdern, Schwagern, Nachbarn?

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    • „Angst-Domino“? Bei Ihrer Musikliste beginne ich zu verstehen, diese Musikverbreiter haben mir damals auch einen mächtigen Schrecken eingejagt. 😉
      Vielleicht ist das aber alles tatsächlich nur eine Frage des Alters, der Einstellung und der eigenen Zielsetzungen…
      (Toten Hosen – Laune der Natur, 2017 // imho weitgehend verzichtbar)

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  2. „Irgendwie wollten die den Faschismus rückwirkend bekämpfen, so schien es.“ Ich lache bitter, denn ja, das wollten wir damals wohl tatsächlich und wollen viele auch heute noch. (ZB Fischer ließ, kaum an der Macht, Belgrad bombardieren, um „ein neues Ausschwitz zu verhindern“, und auch die heutigen Deutschen bekämpfen überall in der Welt Hitler).

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  3. Für die 68 war ich noch zu jung…halte es da mit autopict….und habe daher das Foto erst im Geschichtsunterricht kennengelernt…wir waren dann die Generation GRÜN…wieso Kernkraft, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose…aber auch diese Generation war ähnlich verbissen …lief bei strömenden Regen singend über Bundesstrassen und nannte das dann : Friedensmarsch…und nachfolgend betrachtet war auch sie etwas naseweis aufdringlich…vielleicht ist das nötig wenn man in einem System was ändern will…und sei es als Minister mit Turnschuhen vereidigt zu werden…Man denkt man weiss es besser und es gilt die Welt zu retten…toller TeilzeitJob für jeden Studenten …legt sich aber bei den meisten später wieder 🙂 Frage mich aber angesichts der heutigen Jugend wo denn die nächste Generation Verbesserungsbedarf sieht und warum sie so still erscheint…zu tun gebe es genug…
    LG Jürgen

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    • Die Grünen der frühen 80er hab ich beneidet um ihre Protestmöglichkeiten. Im Osten war da ja noch Maul halten angesagt. Aber gegen Waldretter (Startbahn-West-Protest) hab ich absolut nichts einzuwenden, sowas wäre heute bitter nötig, unter all den Kaminarden und Holzheitzer-Spasten.

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  4. Da will ich doch ein paar Anmerkungen ergänzend beitragen:

    Wenn du z.B. schreibst „Irgendwie wollten die den Faschismus rückwirkend bekämpfen, so schien es.“ … dann möchte ich hier mit diesem Missverständnis aufräumen. Es ging nicht um „rückwirkendes bekämpfen des Faschismus“ … es ging darum, dass die Generation unserer Eltern und Großeltern … nicht mehr länger die Greuel, den Horrors des III. Reiches mit dem billigen „wir haben davon nichts gewußt“ leugnen konnten, sondern sich ihrer Verantwortung für den größen Völkermord (und für vieles mehr) stellen sollten … und das war auch nicht „naseweiß-unfehlbar“, sondern bitter notwendig … denn – und auch das ist ja hinlänglich dokumentiert – viele der ehemaligen Nazis konnten sich ja erfolgreich in der BRD einnisten.

    Stichwort. „Gerede von antiautoritärer Erziehung“ … nun denn … wenn man – wie ich und viele, viele andere – in einer Familie aufgewachsen ist, in der die Prügelstrafe ein Standardrezept für „abweichendes Verhalten“ ist … dann ist man schon offen … für neue pädagogische Ansätze und „Summerhill“ zeigte z.B., dass Respekt und Achtung vor dem Kind eine kernaussage pädagogischen Handels sein muss. Und eine Maria Montessori … mein Gott … das waren für mich Pioniere einer humanen Erziehung.

    Und natürlich bestreite ich nicht, dass es dann in diesem pädagogischem Übereifer jener Jahre Entwicklungen gab, die ich schon damals nicht gut fand (z.B. jene widerwärtige „Rechtfertigung“ von Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen).

    Hinsichtlich der Notwendigkeit, die autoritäre Erziehung zu recht in Frage zu stellen verweise ich auf den Film „Das weiße Band“ und auf die Bücher von Alice Miller, die sich sehr intensiv mit diesemThema auseinander gesetzt hat.

    Und ansonsten, was den 2. Juni 1967 betrifft: Mit meinen 12 Jahren schaute ich mit großen Augen … aber in mir keimte so allmählich der Gedanke auf … dass die Staatsmacht nicht per se …. es gut mit allen meint..

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    • Ach Riffmaster…hier trägste nu Eulen nach Athen. Dass das eigentliche 68 seine Berechtigung hatte, stell ich doch gar nicht in Frage. Hättste mal auf den Ärmelbloglink geklickt.
      Hinter „Faschismus rückwärts bekämpfen“ steht auch ein „…so schien es.“ Und die Floskel „Faschismus rückwärts bekämpfen“ ist auch nicht von mir, sondern mehrfach von Showmastern, Kabarettisten usw. auf ARD verwendet worden.
      Schwarze Pädagogik und Restfaschismus im Westbildungswesen: Siehe verlinkter Ärmelbeitrag; waren schlimm, keine Frage…. an den Auswüchsen der antiautoritären Erziehung krankt Schule bis heute. Typischer Zauberlehrlingfall: Der Besen läuft und läuft und der alte Meister kommt nicht…

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  5. Nachtrag:

    Wenn Du schreibst: „Proteste gegen den Einmarsch in die CSSR. Jedoch war dieses Phänomen eine pure Randgruppegeschichte in einigen Universitätsstädten gewesen; medial im Osten totgeschwiegen und im Westen (wegen der eigenen Aufregungen dort) weitestgehend übersehen.“ …

    — dann stimmt das so nicht … im Westen wurde dieser Einmasch sehr wohl und zwar sehr aufmerksam registriert, bewertet und kommentiert … kein Wunder, denn so konnte man ja den Menschen hier die Aggressivität des „Kommunismus“ deutlichst vor Augen führen.

    Nein, wir haben die Reformbemühung von Dubcek sehr aufmerksam erfolgt und ich erinnere mich noch, wie ich ergriffen war, als die Panzer in Prag einmarschierten …

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    • Ja, eure Medien haben nach Prag geguckt….aber auch das habe ich nicht gemeint. Aber sie haben nicht(genug) nach Ostberlin oder Leipzig geschaut in jener Zeit: Wer fiel DA in Ungnade, wurde relegiert, als protestierender Professor strafversetzt…. Reiner Kunze z.B. für ein paar Jahre in die Produktion, Bettina Wegner in den Knast, Toni Krahl in den Knast…große Verhaftungswelle in der Tramper/Kunden-Szene in Thüringen usw. Ich meinte die Dubcek-Fans der DDR, deren Verschwinden für „Kennzeichen D“ & Co damals kein Thema war.

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  6. Hm, ob die heutige Schule an den „Auswüchsen der antiautoritären Erziehung krankt “ … da habe ich meine erheblichen Zweifel …

    Wir reden jetzt von den Ansätzen der „antiautoritären Erziehung“ in den 70er Jahren ? Richtig ? Und die soll heute noch im aktuellen Schulbetrieb noch wirksam sein ?

    Sorry … da fehlt mir der Glaube … wenn heute z.B. Schüler ein Verhalten an den Tag legen, dass es einem graust … dann doch bitte nicht, weil sie zu Hause von linken Eltern „anti-autoritär“ erzogen werden … sondern, weil sich unser Wertgefüge verschoben hat … dissoziales/assoziales Verhalten in der heutigen Zeit hat ganz andere Gründe, als diese kurzfristige Bewegung der 70er Jahre, die sich eben „anti-autoritäre“ nannte.

    Glaub mir, ich habe täglich mit Menschen zu tun, deren Sozialverhalten mehr als grenzwertig ist …. aber das hat ganz andere Ursachen …

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    • Bei dem Thema haben wir vermutlich gar keinen Dissenz; schreiben nur qua Sozialisation aneinander vorbei. (Aus dem Nähkästchen plaudern möchte ich nicht öffentlich.)

      (Hast ne mail.)

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  7. Und ich bilde mir ein, mich richtig zu erinnern, dass in den 60er Jahren hier bei „uns“, die Unterdrückung oppositioneller Gruppen in der DDR sehr wohl ein Thema war … konnte man doch so bestens darüber aufklären, wie gefährlich der Kommunismus ist.

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    • Schon. Ich war damals ja zu klein um das live mitzukriegen. Kommunismus kritisiert wurde konstant, jedoch auf eingefahrenen Gleisen. so war das ja später auch „Hie Biermann“ (mit alljährlichem Buhei) und „da Renft“ (um die verblüffend schnell medial Ruhe war.) Also Rückschluss auf die 60er: Da gab es doch diesen winselnd um Toleranz werbenden Monolog eines TV-Ansagers vor der ersten Beat-Club-Sendung: Igitt Hottentottenmusike, aber bleibt mal schon sanft liebe Eltern….Oppositionelle Gruppen: Gepflegte (also damals noch möglichst kurzhaarige) Studenten eventuell und so Kirchenkreisjugend. Der Kampf der „Gammler“ blieb tabu. Die mochte man in beiden Deutschlands nicht. Darunter waren nun mal aber die Musiker, die Sprachrohre des neuen Jugendfeelings: Der Leipziger Beataufstand von 1965 … war der damals Thema? Ich erfuhr davon erst in den 90ern. Die „Säuberungswelle“ 68/69; Relegation von Studenten (wegen der Haarlänge) in die Produktion, oder weil sie irgendwo gegen den Einmarsch unterschrieben hatten…?

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