On the Prog Path (14)

Es gibt Texte und Töne, die dich prägen. Es gibt auch Orte -; und Wege dahin, wo sie „passieren“. Manchmal ist es die Örtlichkeit, das Drumherum, das einem Erlebnis Dauer verleiht. Weil die Kulisse eventuell erhalten bleibt, während Töne bekanntlich flüchtig sind.

Dabei ist das folgende Erlebnis an sich (auch ganz ohne Beiwerk) schon ein Meilenstein gewesen und geblieben.

Wenn ich heute in die alte Heimat fahre, so verlasse ich fast am Ende der Tour die A9 und wähle statt der direkten Route ins Saaletal den Umweg über Osterfeld und verschiedene Dörfer. Als in den 90ern die alten Pfade des real nicht mehr existierenden Sozialismus zu Pisten geteert wurden, lernte ich ihn dank diverser Umleitungen kennen. Allerdings nicht gut genug, denn ich verfuhr mich hin und wieder. Einmal falsch abgebogen, dann kommst du über Schkölen nach N. im Saaletal. 18 km Umweg. Das passiert so alle 3 oder 4 Jahre einmal.

Immer, wenn ich durch Schkölen rolle, ist wieder 1978.

Schkölen kann an und für sich nicht mit allzu großen Sensationen aufwarten. Hier verbrannte sich in den 70ern kein Pfarrer, hier jagte die Stasi keine Biermannprotestler, hier nähte niemand einen Fluchtballon. Nichts störte die Ruhe dieser Sehrkleinstadt am späten Nachmittag des 27.04.1978, als eine TS 150 besetzt mit 2 jungen Männern in GST-Uniform in den Ort raste; Vollbremsung vor dem Rathaus, Helme runter, mit einer Hand den platt gedrückten frisch geschorenen Punk-Wuschel wieder aufrichten, Karre anschließen und – hinein in das altehrwürdige Stadtpalais!

Kurzer Schock am Plakat an der Tür: LIFT, 29.04.78 20:00Uhr (Ratskeller-Saal), Eintritt: 8,75 M; Karten im Meldebüro und an der Abendkasse.

8,75 M!

Wieso nicht 3,65 M?

Egal. Der Vorverkauf hatte heute begonnen. Um 15.00 Uhr! Es war gerade 17.15 Uhr geworden! Eher ging nicht. Wegen der vormilitärischen Pflichtveranstaltung in N. zuvor. (Als EOSler kannste sowas nicht schwänzen, wenn du in einem Jahr ein Abitur haben willst!) Kein Schwein auf dem Platz oder auf dem Flur. Alles ausverkauft? Wieviele mögen hier in den Rathaussaal passen?

LIFT waren seit einem halben Jahr Sensationsband. Es gab sie unter wechselnden Namen seit 1969, in wechselnder Besetzung; aber erst vor 6 Monaten war ihre Debut-LP erschienen. Eine astreine Überraschung: Abgesehen von zwei Songs war hier alles neu! Die Band hatte viele Wechsel durch; und so war eigentlich ein ziemlich zerhacktes Sammelsurium unterschiedlichster Stile zu befürchten gewesen – stattdessen klang hier nun alles wie aus einem Guss: Nach Artrock und nach sehr eigener Handschrift! Heubach und Scheffler, die beiden Keyboarder und Komponisten hatten mit einem Schlag die Stern Combo Meißen entthront. Würde diese neugefundene Größe auch live aufführbar sein? Oder würde es ein Rumpelkonzert dank unzureichender Technik? Welche Stücke würden sie zwischendurch covern? Spielen die am Ende was von YES? Stilistisch würde das passen!

LIFT live, in unserer Region und wir dabei – wenn’s klappt!

An einer Tür die Aufschrift: Meldebüro. Anklopfen. „Herein!“ Tür auf:

„Hamsienochkartn?!“

„Guten Tag erst mal“, grinsen uns zwei Gesichter entgegen.

„Äh. Tach. Natürlich. Äh. Liftkonzert. Alles weg?“

Das eine Gesicht ist männlich, das andere weiblich.

Das männliche Wesen hat so eine 08/15 Kinokartenrolle in der Hand: „Wieviele wollter?“

Wir rissen erstaunt die Augen auf. Das weibliche Wesen schob uns einen Raumplan hin: „Wo wollter sitzen?“

Christian und ich sahen uns an: Nich’, dass das wird, wie damals bei Kerth!

Zwei Karten bezahlt, zwei Strichelchen gemacht (am langen Tisch gleich hinter dem Mischpult) und Heimfahrt.

„Mit meinor Karre war‘mor Kardn holn, mit deinor Karre fahrmor zum Konzert.“

Einverstanden.

Drei Abende später kehrten also die beiden GSTler in Zivil auf einem S50 N zurück. Der Platz vor dem Rathaus: leer. Wo also hin mit einem unbewachten Moped, wenn es dunkel wird? Adieu Tachowelle. Mangelware gerade. Meine war vor 3 Wochen geklaut worden, worauf mich Udo kurz darauf mit der Nachricht überraschte:

„Abrobo Dacho?! Hier hab’ch ehne vonne Mokick. Das stand da so alleene indor Stadt rum. Da habch an dich jedacht.“

Solange mir keiner den Gasbowdenzug abmontiert, kommen wir wenigstens noch heim. Dem Lenkerschloß war auch nicht recht zu traun.

Rein ins Rathaus, der Saal war nicht zu verfehlen: Beide Türen offen und Soundcheck schon auf der Treppe zu hören – glasklarer Sound!

Im Saal: Schlimmer als bei Kerth: 10 Mann Publikum, 2 Kellnerinnen und ein Wirt am Tresen. Aber auch hier war noch Hoffnung auf Livekulisse, denn es fehlte auch hier noch eine gute halbe Stunde.

Und wirklich: s kamen immer wieder mal 2 oder 3 Mann hinzu. Während des Schlagzeugsolos hab ich dann gezählt: Es wurden 53 Leute. Der Saal war mit Tischen und Stühlen gut für ca. 200.

Das Konzert begann pünktlich: Licht aus; Applaus, Spotlight auf den Basser: „Hallo Schkölen! Wir beginnen mit einem ganz neuen Werk von uns selber. „Meeresfahrt“.“ Und losging‘s mit Lightshow und Bombast! Und wenn ich Lightshow sage, dann meine ich das auch. Es gab nicht nur Buntlicht nach Zufallsprinzip, wie damals üblich, sondern Farbwechsel auf! den! Takt! Und da waren auch nicht nur die üblichen rot-grün-Wechsel, sondern auch weiß/blau; rot/blau usw.

Der Sound, das Licht, die dauernde Rotiererei der Musiker an den diversen Keyboardpulten…

Wir saßen wie gebannt. Die Meeresfahrt ist 15 Minuten lang und keine Sekunde langweilig! Anfang 1979 wird sie der 2.LP den Namen geben und der Sänger und der Bassmann, Pacholski und Zacher, werden nicht mehr am Leben sein… der schwer verletzte Heubach wird nach Genesung von jenem rockgeschichtlich so bedeutsamen Autounfall (Herbst’78) die Band verlassen und für Ute Freudenberg & Elefant „Wo das Meer beginnt“ komponieren. Die LIFT-Karriere wird sich nicht mehr erholen.

Ohne es zu ahnen, erlebten wir ein LIFT-Konzert in Bestbesetzung, zeitlich zwischen den beiden LPs, die wichtig waren und wichtig bleiben.

Sie spielten tatsächlich an dem Abend mehrfach Genesis und Yes-Stücke. Laut Ansage teilweise in Medleyform. Leider waren wir 1978 noch nicht firm genug, um deren Karrieren überblicken zu können. So hörten wir hier vieles zum ersten Mal; es überrollte mich völlig; ich merkte mir die Titel nicht. Auch die Wakeman-Solowerke wurden berücksichtigt. Von dessen  Soloschaffen kannten wir ebenfalls nur „Rundfunktrümmer“, so z.B. auch nur „Katherine Parr“ von den „Six Wifes…“. Immerhin wussten wir, dass dieses Konzeptalbum existiert.

Pacholski: „Heinrich VIII. hatte bekanntlich viele Frauen. Eine hieß…“(Name vergessen; eine von den anderen 5en jedenfalls); aber alle im Saal wussten, dass jetzt Wakeman kommt.

Man konnte regelrecht vergessen, dass man da im Rathaussaal von Schkölen saß. War’s nicht doch irgend so ein Paladium in Paris, Brüssel, London? („Genesis live in Pärris; Seconds out; soeben erschienen“, hatte der HR3 neulich verkündet.) Na gut, die „Atri“ und die „Vita-Cola“ erinnern dich dran, dass dem nicht so ist.

Mittendrin immer wieder auch ohne Ansage die eigenen Stücke – und es passte hervorragend zusammen, so auch der Aufhorcher schlechthin: LIFT spielten in dieser Besetzung auch die „Tagesreise“, die eigentlich der Horst-Krüger-Band zugerechnet wird, bei der sie 1975 auf LP erschien. Damals war Heubach dort für kurze Zeit der Keyboarder. Er hatte die Nummer von der 1973 verbotenen Bürkholz-Formation mitgebracht. Nun war er LIFTianer und somit war sein Referenzstück mitgewandert. Herrlich! Es passte hier auch sehr viel besser ins Gesamtschaffen.

Nach 90 Minuten sollte eigentlich Schluss sein, jedoch: „Zu-Ga-Be!Zu-Ga-Be!“ Da waren sich 53 Leute im Saal einig!

Die Band kommt nochmal auf die Bühne, spielt, geht. „Zu-Ga-Be! Zu-Ga-be!“

Die Band kommt wieder, spielt noch einen, geht wieder. Zu-Ga-Be!

Die Band kommt sofort zurück. Zacher(Bass) erklärt:

„Wir müssen doch den hohen Eintritt verdienen!(Applaus!) Ich muss aber was erklären! Wir nehmen immer für jede Karte 8,75 M und die Städte oder Dörfer, übernehmen davon 5,10 M. Warum das in Schkölen nicht passiert ist, wissen wir nicht. (Applaus) Wir spielen nun als wirklich letzte Nummer ein Stück von unserem Langzeitvorbild Stevie Wonder. „Living for the city“!“

(Applaus, leicht angesäuerter Blickwechsel zwischen Christian und mir, denn unsere Stevie Wonder Begeisterung war gerade vorbei) Dann legte Pacholski mit Mundi-Intro los (so fängt das bei Stevie Wonder schon mal nicht an), dann singt er a capella und dann kommt die leibhaftige Genesis-Sound-Wand. So hab ich noch keine Stevie Wonder Nummer gehört! Und leider ließ sich der Vorgang auch bis heute nicht wiederholen.

Ob davon noch Mischpult-/Tonbandmittschnitte irgendwo existieren mögen?

Der letzte Ton verklang. Final-Applaus. Allgemeiner Aufbruch. Wir beide schweigend. Jeder damit beschäftigt, das Gehörte und Gesehene zu verarbeiten. Dazu drängelte sich bei mir noch ein anderer Gedanke nach vorn: Was würde in der Zwischenzeit von meinem Moped noch übrig sein?

Der Rathausvorplatz, von ein paar Laternen beleuchtet, bietet ein romantisch mitternächtliches Idyll: illuminierte Leere mit Mokick. Von weitem sichtbar. Alles drangeblieben. Donnerwetter! Ich schließ es auf. Wir quetschen die Schädel in die Helme. Keiner hat bisher ein Wort gesagt. Vor dem Aufsteigen –

Christian: „Und? Was sachsde?“

Bludgeon: „Wir haben YES gesehen.“

Christian nickt: „Ost-YES.“

Noch 3- oder 4x bin ich danach gegen Abend an lauschige Plätzchen irgendwo am Rande des Buchholzes gefahren, hab den Blick im Sonnenuntergang über die Felder streifen lassen und im Kopf lief dazu „Abendstunde, stille Stunde“ und die Lichtshow von Schkölen …

(Es waren jene pathetischen Zeiten von dust in the wind, manchmal fällt der Regen eben lang, many too many, future times will stand and clearly see …)

Rund 40 Jahre und viele, viele Events später:

Den 29. April 1978 toppt keines der nachfolgenden Konzertereignisse.

„Die Musik der Jugendzeit begleitet uns doch ein Leben lang.“ (wird in Sabine Bodes Büchlein „Kriegsenkel“ eine 60jährige Pastorin zitiert, die zu „sympathy for the devil“ joggt. Recht hat se.)

12 Gedanken zu “On the Prog Path (14)

  1. Glück gehabt…Mit dem Konzert und dem Moped…ich hatte da mal ein Erlebnis der anderen Art…Kam beschwingt aus einem Konzert von Massiv (Attack..aber dann kam der Irak Krieg..also nur noch Massiv) stieg auf mein neues Mountainbike und radelte sehr beschwingt durch das nächtliche Dortmund auf eine Kreuzung zu, Rote Ampel, die Strassenbahn hatte Vorfahrt, ich wollte bremsen…und griff ins Leere..ein herzbewegender Moment..so mit voller Fahrt auf eine Bahn zu zu rasen und nicht bremsen zu können…kontrollierter Notabstieg mit den üblichen Schürfwunden…Rad begutachtet…da hatte irgendein Vollidiot mir die Bremsen abgebaut…Merke: Selbstbedienung gab es auch im real existierenden Kapitalismus..nur hatte ich dieses Prinzip immer irgendwie anders verstanden….

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  2. Freiwillig 🙂
    in Dortmund hörte man sonst nur Philip Boa oder suicide commando, da war das mal ne intellektuelle Abwechslung falls man mal nicht mit Selbstmordgedanken durch den Tag lief…betrifft aber nur die erste Platte : Blue Lines.

    Gefällt 1 Person

    • Philip Boa? Ein ganz überschätztes Kerlchen. Ich wurde durch „Container love“ 89 auf ihn aufmerksam…fand aber nach dem Mauerfall beim Reinhören an diversen Plattentheken keinen zweiten guten Song. Voriges Jahr hab ich mir dann doch so einen anhörbaren Doppeldecker einverleibt: CD 1 Best of (Bis auf einen Track anhörbar) und CD 2 „Fresco“ (neue Songs) 2016 – is‘ schon okay zum Auto fahren. Aber wir reden hier doch von den späten 90ern: Da ging doch was im Independentbereich: REM wurden groß, Sheryl Crow wurde entdeckt, Texas hatten zwar nur einen Hit, aber mehrere gute CDs, Jesus and Mary Chain tourten noch, … Machten die alle einen Bogen um den Ruhrpott?
      Im Osten gabs ein Phänomen namens Sandow, aber ende 90er bauten die einen schweren Autounfall im Drogenrausch und danach war leider Sense mit der Schaffenskraft.

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