On the Prog Path (13)

„Wenn du grooooß wirst, inner Kleinstadt, ja wenn du groooß wirst, inner Kleinstadt…“(Pannach/Renft) in den späten 70ern, da steppt nicht grad der Bär für heranwachsende, lebenshungrige Alleskönner. Konzerte? Fehlanzeige. „SET“ und „Leuna Zwo“ hießen zwei regionale Durchschnittskapellen, die ab und an mit ihrer Anwesenheit das pure Einerlei BoneyM- und ABBA- dudelnder „Schallplattenunterhalter“ aufbrachen, indem sie bissl CCR, Tull, Lindenberg und Beatles imitierten. Das Highlight von SET war dann zu fortgeschritten alkoholisierter Stunde mittels „iiiiiiisi liwinnnn“ niederknieende Mattenschwinger die Dielen vor der Bühne wischen zu lassen.

Leipzig, Halle, Jena waren etwa gleichweit entfernt und die dortigen Studentenaufkommen sorgten für ständiges Vorbeikommen der Großkopferten des rockmusikalischen Bereiches eben dort. Aber unmotorisierte Teenies aus der Provinz kamen da nicht hin, selbst wenn sie per Mundpropaganda rechtzeitig davon erfahren hätten. So lebten wir von SET und Leuna II und den Zufallsalmosen alle Jubel-Jahre mal, dass das „Haus des Volkes“, also eigentlich das „chrose Gino“, zum Jugendkonzert lud.

1977 war anders als die Jahre zuvor: AMIGA ging in plötzliche Offensive; 6 Bands bekamen eine LP-Chance, die „Rundbespielung“ der Republik war erfunden worden, also häuften sich Konzert-Chancen!

Und meine Saaletalstadt schickte sich an, 1978 eine 950-Jahr-Feier größten Ausmaßes geben zu wollen.

An Warnungen hat es sicher nicht gefehlt, Stadtfeste konnten wegen plötzlicher „Kundentreffen“(=Osthippies; „Ey Kunde!“) ausarten. Altenburg brachte irgendwann in den späten 70ern einen Tag lang Bürgerkrieg (Massenschlägerei von „Kunden“ mit der Polizei) hinter sich und auch eine IGA-Eröffnung in Erfurt lief in dieser Zeit völlig aus dem Ruder, so dass man sich denken kann, wie blank die Nerven der Stadtväter gelegen haben müssen: Traditionelles Kirschfest 1978 inclusive Stadtgründungsfestwoche, also Konzerte jeden zweiten Tag; und keinerlei Überblick, wie diese frequentiert werden würden!

Deshalb ergaben sich im Schuljahr77/78 plötzlich Konzertgelegenheiten in der Heimatregion. Test-Phase!

Rock&Roll!!!!! Make the „Chrose Gino“ to the CBGB‘s on Sale-River!

Äh, nee, naja in ä ostzonal way, you know?

Jürgen Kerth kam. Der Blueskönig aus Erfurt! Seine Debut-LP war zu dem Zeitpunkt gerade angekündigt, aber noch nicht erschienen. Die Großen aus der Patenklasse hatten uns vorgeschwärmt, dass der der Johnny Winter der DDR sei. Wer Johnny Winter war, wussten wir dank eines CBS-Samplers „Rockwork“, samt lehrreichem Booklet: „Schielender Albino, der die flüssigste Bluesgitarre spielt…“

Die „Golden olden Days of Rock&Roll“ waren uns also bekannt; … und von Kerth zwei Nummern aus dem Radio: „Geburtstag im Internat“ und „glücklich dazu“. Die mit Johnny Winter Sound in Zusammenhang zu bringen, gelang nur mit sehr viel Phantasie, aber DIE hatten wir!

Also hin da. Prog isses nich‘, aber live!

Wir waren zu viert, machten uns reichlich früh auf den Weg, denn mit Andrang war zu rechnen. Die Stadt hatte 8 POS’n, eine Berufsschule, eine Agrar-Ingenieurschule, eine Postfachschule und wenn alleine der männliche Teil der EOS anrückte, wär das Kino schon halb voll!

Es kam anders.

Ganz anders.

Wir vier löhnten die obligatorischen 3,65 M (Jeder!) und betraten den Kinosaal. Mitten im Gestühl ein Mischpult und 2 Roadies. Ansonsten verkleckerten sich zirka 30 Besucher in diesem 500er Raum.

Nun; es war noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Und richtig! Der Saal füllte sich insgesamt mit beachtlichen 70 oder 80 Mann! Was war da schief gegangen? Der Mann galt als Kult?! Wenn‘s keine Renft mehr zu bestaunen gibt, dann sollte man Stern Combo Meißen, die Klosterbrüder und Kerth gesehen haben! Jedenfalls war das der Schmäh, der laufend rekapituliert wurde! Kerth kriegt in Naumburg das Kino nicht voll????????!!!!!

Und wer saß da eigentlich außer uns? Wo waren die Klassenkameraden?

Die Typen der Parallelklassen?

Der Patenklasse?

Auch all die „Kenner“ glänzten durch Abwesenheit!

Da kam aber schon ein Typ in Jeansklamotten auf die Bühne, griff sich die Gitarre und zupfte ein paar Töne, die sofort mit Applaus belohnt wurden. Verblüfft starrte er ins Publikum, schüttelte den Kopf und verließ die Bühne wieder. Sound-Check. Wir hatten den Roadie bejubelt. Peinlichkeitsgelächter. Es war ja allen so gegangen. Hardcoreblueser waren also keine da.

Nach einer Weile kam wieder einer auf die Bühne, diesmal mit’ner roten engen Windjacke, der sich dieselbe Gitarre griff, zwei oder drei Bluesakkorde anschlug, dann abbrach und ebenso staunend wie sein Vorgänger ins Publikum glotzte, weil nun niemand klatschte – deshalb riss er grinsend die Augen auf, steckte das Plektrum in den Mund, um die Hände für eine kurze Applauslehrvorführung frei zu haben: Patsch-Patsch!

Aaaaaah! DAS isser also!

In den einsetzenden Applaus spielte er die erste Nummerhinein, alleine an der Gitarre, wie später nur noch Billy Bragg. Für die zweite Nummer kam dann der Rest der Band auf die Bühne und der Abend kam ins Rollen. Mit jedem Stück wuchs die Erkenntnis, dass die Legenden der älteren durchaus berechtigt waren: Das rockte, swingte, markierte auf bluesige Dampflok vom feinsten. Nur der Gesang – hach. Also’n Sänger isser nich. Bei den englischen Nummern sagte er den Text eher auf, bei den deutschen versuchte er hie und da mit so’nem Auf-und Abwärtsschlenker Gesang anzudeuten… gottlob waren gut 50% des Konzerts instrumental.

Ein beachtlicher Nebeneffekt war der Keyboarder: Das Ding sah aus, wie das Harmonium in der Auslage des Plattenladens, aber es klang wie eine alte fauchende Dorfkirchenorgel. Später entdeckte ich Jimmy Smith für mich.Root down! Was für ein Album! Der klingt wie der Tastenmann vom Kerth!

Und noch etwas war ostrocktypisch: Die Musiker hatten ihre Erfahrungen im Auf-und Ab der Kulturpolitik gemacht. Heute gelobt und morgen verboten, um übermorgen unter anderem Namen gleich wieder aufzuerstehen: Beweg dich bloß nicht auf der Bühne! Das wäre Aufstachelung zur allgemeinen Enthemmung, die als Rowdytum morgen in der Zeitung steht, weil volkseigenes Kinogestühl zu Bruch ging – oder so.

Auf der Bühne standen sie also stocksteif und spielten eine Nummer nach der anderen herunter; und wir saßen diszipliniert im Kinogestühl und zollten braven Applaus zwischen den Tracks, weil wir eben keine „Kunden“ waren. Ab der 5. Nummer ungefähr mischte sich unter das Händchenpatsch – auweia –  der eine oder andere enthemmte Pfiff! Nach einer Stunde, bei in etwa der drittletzten Nummer, wurde rhythmisch mitgeklatscht: Das Saaletal tobt!

Nein, die „Extase“ war es nicht, was mir diese Konzert-Erinnerung ins Hirn meißelte. Manchmal gehen diese „Gigs“ ihre eigenen ungeplanten Wege. Ich sollte das gleich beim ersten Mal erfahren.

Bei der 3. Nummer ungefähr kam links vom Boxenturm ein gut hörbares störendes Brummen. Der Bassist stand rechts und hörte es wohl als erster auf der Bühne. Also setzte er sich weiterspielend langsam in Bewegung auf die andere Seite. Stand dann mit dem Rücken zum Turm, trat nach hinten aus, gegen das Gehäuse und – schon war der Sound wieder klar. Zwischenapplaus! Grinsend ging er wieder auf seinen Platz.

Zwei oder drei Nummern später bückte sich der Bassmensch plötzlich hinter Kerth und steckt dessen Gitarrenkabel wieder in den Verstärker: Huch! Niemand war im Orgel-Bass-Schlagzeugkrawall aufgefallen, dass die ein paar Takte lang gefehlt hatte! Zwischenapplaus!

Schließlich, wieder ein paar Songs später muckerte die linke Turmseite erneut mit fitschelnd kratzenden Störgeräuschen. Bassmann wieder rüber, musste diesmal jedoch sein Spiel unterbrechen, bückt sich hinter die Box, zieht vermutlich einen Stecker oder rüttelt an einem Kabel: Die linke Box ist kurz tot, kehrt prompt mit sauberem Sound zurück. Bassmann erhebt sich, spielt sofort wieder mit und wandelt auf seinen Platz. Zwischenapplaus!

Ein Konzert der Pannen – professionell gemeistert. Herrlich!

Und wir am nächsten Tag die Kings on Schulhof:

„Ey! Kerth in der Stadt — und du? Wo warstn jestern Ahmd? „Portrait per Telefon“* gucken oder was?!“

„Ihr ward da woh‘?!“

„Na, was denkst du denn?!“

„Un‘? Wie wars?“

„Spitzenmäßig! Aber seine Anlage is‘ Schrott.“

Wir konnten gleich nach dem ersten Mal unsere eigene „Heldengeschichte“ erzählen.

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*Portrait per Telefon – abgesehen von der „Goldenen Note“ die mit Abstand langweiligste Unterhaltungssendung des DDR-Fernsehens, jedenfalls aus Perspektive eines 17jährigen.

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