„My heart is going boom-boom-boom…“
Solche Scheiße hat der bei Genesis nie gemacht.
„Solisbury Hill“ war draußen und schockte die Gemeinde der 17-18jährigen Progheads da im Osten. Mit den Englischkenntnissen war es mengenmäßig betrachtet nicht weit her und so genügte diese eine Zeile den ehemaligen Mr. Tiefsinn in die Schublade von Monika Herz, Regina Thoss und Hans-Jürgen Beyer zu verfrachten. Aus.
Gabriel verarbeitete hier seinen überstandenen Genesis-Frust. Die Frotzeleien von Rutherford und Collins. Er feiert sein Befreitsein nach dem großen Ballastabwurf.
Ich hatte eine Zeile mehr verstanden: „Eagle flew out on the night“; wodurch spontan eine anheimelnde Verbindung zu den Kupferstichen aus dem „Guten Kameraden“ von stürmischen Nächten am Meer bzw. heimkehrenden Kreuzrittern und im Morgennebel auftauchenden Heimat-Burgen entstand. Mir gefiel der Song auf Anhieb, aber ich schwieg zu all dem Schulhofspott.
Stück für Stück und Zeile für Zeile erschloss sich da bei jedem Hör ein sehr gekonnter Text. Es sollte im Falle von Peter-Gabriel-Dichtkunst nicht das letzte Mal sein. Nach ein paar Wochen oder Monaten kippte auch die Mainstreamstimmung „der Kader von Morgen“ an der „höheren Bildungsanstalt“ von pfui auf hui, als „modern love“ von Kassetten und Sammlerbändern knallte, wenn Schul-bzw. Klassendisco war: Fast Punk! Kuhl! (Yeah Man! Wir schrieben das wirklich so!)
Im Nachhinein war die Zeit 77-79 DIE Phase mit der größten Gleichzeitigkeit der widersprüchlichsten Erfahrungen, die es kennenzulernen galt und die spielerisch und auf eigenartige Weise ungestresst ausgehalten wurden: der Tod von Großmutter, Opa und Hund1, der Umstieg von Kassettenrekorder auf Spulentonband, die ersten beiden Liebesunentschlossenheiten, Fahrerlaubnis Moped, Tanzstunde, Fahrerlaubnis Auto, nebenbei Punk sein wollen, aber weiterhin auch Progrock mögen; trotzdem über deren Gigantismus spotten und sich gleichzeitig danach sehnen, irgendwann einmal live in einem Yes-Konzert zu stehen
„bei dem die Band zuvor Lautsprecherboxen in die Deckenkuppel hängen ließ, um den Schall zu schlucken und somit gute Akkustik zu erzeugen“, wie der Hessische Rundfunk da unlängst aus Frankfurt/Main anlässlich der „Going for the one“ Tour berichtete…
Inzwischen trösteten die Rockpalast Festivals über den „Mauerschaden“ hinweg.
Erst die Gallagher-Fantum-Explosion (noch zu Kassettenzeiten) und bald darauf „Peter Gabriel live!“ und diesmal ist der Jupiter eingestöpselt für die Komplettmittschnittpremiere.
Aber da war noch Steigerungspotential: Wenige Wochen später kam Udo mit einem geborgten Band an, auf dem sich zwei LP-Aufnahmen befanden: Genesis „Trespass“ und „Peter Gabriel“ (die erste)!
Oh, das war was gaaaanz anderes als jene elenden Yes-Kassettenmitschnitte zuvor! Diesmal klang es hinterher auch auf unseren Bändern herrlich! Und überhaupt: „Lord here comes the flood!“ – was für ein Brecher!
Das verbesserte unsere Lage ruckartig. Wir hatten nun was zu bieten! Vor allem die „Trespass“ war alsbald begehrt! Die war selbst den „Kennern“ unbekannt. „The Knife“ kannten zwar ein paar, aber lediglich in der Live-Version von der späteren LP. Unser Studiovariantenbesitz trug uns Beute ein: Queen „Jazz“, Lynyrd skynyrd „Pronounced…“ und endlich eine erste Yes-Aufnahme-Chance direkt von Vinyl: „Tormato“!
Was wird die heute bespöttelt, in Grund und Boden kritisiert, für wertlos befunden! Gottlob lernte ich sie kennen, als es den pseudoakademischen Schmäh des Internets noch gar nicht gab.
Die Erhabenheit von „Madrigal“, das Ohrwurmmotiv von „don’t kill the whale“ (die Textaussage nicht minder!), die geniale Song- und Arrangement-Idee von „circus of heaven“, der kryptische Text von „release, release“! Hach! MEINE Musik! Eben einfach YES!
Udo kaufte schließlich Genesis „…then there were three“ und hatte somit das erste eigene Westvinyl, was wiederum Begehrlichkeiten anderer Platteninhaber weckte: Barclay James Harvest flatterten so ins Netz, Elvis’ens „Moody Blue“ –
„I’ll tell the man to turn the jukebox way down low
And you can tell your friend there with you he’ll have to go…“
Gehen würden wir alle müssen. Das war so üblich nach’m Abi. Im Herbst. Wie alle Jahre so auch 79:
Auf einmal hast du so eine kleine blaugraue Klappkarte im Briefkasten und einen Kloß im Hals: Einberufungsbescheid nach Prora/Rügen PF 31130/c2. Nie gehört. Das las sich im Saaletal wie Stalingrad und war reichsbahntechnisch auch fast so weit weg. Proransk eben. Der Arsch der Welt. Im Haack-Weltatlas der DDR nicht zu finden. Geheimhaltung! Militärisches Objekt!
Dort würden die Radiogeräte auf der Anzeigenskale kleine Pflasterstreifen haben, wo die Ostsender liegen. Wer einen Radiorekorder mitbringt, würde sich vom Spieß das Kassettenteil verplomben lassen müssen. Rund 540 Tage würde diese Entsagungsphase dauern und nur 18 Tage Urlaub würde es geben! Das war bekannt. Auf EK-Schikane und Rassenfrage („Sachsensauen“ gegen „Klippenkotzer“ und „Wrukenfresser“) waren wir nicht vorbereitet.
Wenigstens in musikalischer Hinsicht kam es besser als erwartet. Ich lernte bereits während der Grundausbildung MEINEN Dealer kennen: Westplattenkauf per Wunschliste. Davon konnte ich vor 79 nur träumen.
„My heart was going boom-boom-boom“ bei jeder seiner Vollzugsmeldungen, wenn er aus dem Urlaub kam: „Die Bowieplatten sind da. Meine Mutter schicktse an deine.“ …. „La Düsseldorf und Oldfield kannste bezahlen, meine Mutter hat se losgeschickt.“ … allerdings auch „Ian Hunter, die „shizophrenic“ war’n guter Tipp von dir. Die behalt ich selber. Die nimmste ehm nach dor Asche bei mir of.“ Immerhin‘n Hunderter gespart – für noch’n Wunsch mehr…
Langsam erklomm somit auch ich MEINEN „Sonnenburgberg“, denn mit jedem verstreichenden Monat und jedem Plattendeal „hinter der Front“ daheim meinte ich den „Eagle“ deutlicher und deutlicher „flewen“ zu sehen:
…He was something to observe
Came in close, I heard a voice
Standing, stretching every nerve
I had to listen, had no choice
I did not believe the information
Just had to trust imagination
My heart was going boom, boom, boom
Aber erst in der Nacht des 29. April 1981 beim symbolischen „Löffel abgeben“ am Kasernentor; als die plattgewalzen Emaille-Löffel der EKs MEINES Diensthalbjahres auf die Regiments-Avenue klimperten, war er wirklich gelandet:
„Son,“ he said, „grab your things
I’ve come to take you home“.
Immer wenn ich Deine Texte lese denke ich, vielleicht sollte ich es nochmal versuchen mit Yes, oder zumindest mit Genesis. Vielleicht ist Tormato ja das Album was gefehlt hat, oder Trespass, wenngleich mich die hochgelobten Meisterstücke dieser Bands alle eher genervt haben und Jon Anderson wahrscheinlich auch auf Tormato wieder singt.
Aber vorerst hol ich mir die erste von Gabriel, die fehlte tatsächlich noch in der Sammlung.
Meine Blogrolle funktioniert übrigens wieder, fehlte wohl nur ein neuer Post um sie wieder in die Spur zu bringen.
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Freut mich, wenn’s ansteckt! Anderson singt auf Tormato – soviel Qual muss sein. Beim allerersten YES-Kontakt dachte ich auch: Yürgs! Whats that? Aber das verflog schnell. Auf „Drama“ hab ich ihn schwer vermisst und der Platte jahrzehntelang Unrecht getan – die ist nämlich trotzdem gut. Aber ich kenn‘ das, wenn man eine Stimme unausstehlich findet: Bei mir kam es deshalb nie zu Rush-Verehrung. Und Kansas funktionieren eben aus dem gleichen Grund auch nur dosiert. Aber Rush gar nicht: Obwohl die musikalisch und textlich eigentlich eine Wucht sind. Aber diese Stimme da – keine 3 Minuten! Ehrlich. No go!
(Was mich an deiner Blogroll immernoch wundert ist diese seltsame Doppelbenennung, wieso bloß hat sich da der „Querdenker II“ so verfestigt?)
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Hol dir die erste Scheibe von Gabriel. Die nächsten drei, naja.. Ich habe ihn damals gleich gesehen, bei der ersten Deutschlandtour in der Wartburg in WI. Das war die würdige Fortsetzung von Genesis. Mit Tony Levin am Bass. Damals schon.
Und wenn dir die Scheibe gefällt, zieh dir gleich im Anschluss die Exposure rein. Von Robert Fripp. Darauf ist eine famose Version von Here comes the Flood. Dass auf dieser Scheibe auch Peter Hammill zu hören ist, erwähne ich nur nebenbei.
Und wie Bludgeon schrieb, entweder einem gefällt die Stimme des Sängers oder nicht. Jon Anderson hat mich nie gestört…
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