On the Prog Path (5)

Es war, wie bei so vielen meiner Generation: Irgendwann kommt einer zu dir und spielt dir ein Klimper-Klumper-Klavier-Intro vor: Du bist 15 Jahre alt, in zeittypischer Bachmann-Turner- Overdrive -Status-Quo-Grobmotorik befangen, mi’n bissl „catch the wind“-Gefühl dazwischen, weil Donovans Beat-Club-Oldie gerade im „Musikladen“ gewonnen hat und fragst somit verständnislos: „Solln das wern?“

Aber ehe der Spender antworten muss, kommt die Gitarre: Bäm -bäbä-bä-bämm! Tuketuketuk. Bäm-bäbä-bä-bäm! Die Lokomotive breathte los, dass es einen einfach mitriss. Das also waren Jethro Tull?!

Tull um 75. Da wurde um jeden Anderson-Pups ein Geschiss gemacht, dass man denken konnte, Goethe wäre aus dem Jenseits zurück und hätte SOFORT „Faust III“ veröffentlicht! (Was einen 15jährigen nun nicht gerade in Euphorie geraten lässt, während um ihn her alle Älteren abzuheben scheinen…) Ian Anderson war – GOTT! Im West- UND Ostradio gleichermaßen.

Die „too old to Rock and Roll too young to die“ erschien bald darauf, wurde auf mehreren Sendern umfangreich besprochen, maßvoll vorsichtig (erinnere ich mich) wurde die Vermutung angedeutet, dass sich nun auch bei Jethro Tull (!) anzudeuten scheint, dass da ein gewisser Zenit überschritten ist, aber nichts desto trotz sei es ein weiteres gutes Album; im Gegensatz zu Deep Purple und Led Zeppelin geht in der Artrockfraktion noch was…

Ich nahm Songs von ihnen auf. „Lokomotive breath“, „Aqualung“ (jahrelang falsch geschrieben als „Aqualong“) und „Bourée“ konnten durchaus begeistern; vieles andere aber erzeugte Fragezeichen und wurde bald aus „Platzgründen“ für besseres wieder gelöscht. Das wirklich flächendeckend einhellige Lob für die Band verwunderte mich damals sehr. Zumal da auch reichlich Dödel dabei waren, denen man keinerlei eigenen Gedanken zutrauen konnte. Als SFF fassten Christian und ich die Kategorie dank einer gesunden Portion Pennäler-Non-Chalance gern zusammen: Saufen-Fi(ähem Geschlechtsverkehr-Slangbegriff)-Fussball. Und so einer schwärmt dann von „Thick as a brick“?! Okay, die eigenartige Aussprache von Vokabel1 verriet, dass da wohl ein Übersetzungsfehler zu Grunde lag, wie bei unsereinem bei „Aqualong“.

Auch manche Tanzmaus, die eben noch die „tollen“ Hits von Smokie oder Abba abgefeiert hatte, verriet dir plötzlich auf die Frage, worauf sie sonst denn stehe, mit leicht verdrehtem Blick: Jethro Tull. – ??? – Titel kann se anschließend keine nennen, also kommt noch: „Einfach alle Lieder, die die gemacht ham…“

Ach.

Für einen Rockmusikfanatiker wie mich einfach die falsche Antwort. Einsiedlerdasein schien vorprogrammiert.

Eines Tages taucht Christian bei mir auf, weil er mein Gerät benötigt, um von geborgter Kassette „Thick as a brick (Part 2)“ aufnehmen zu können. Wie schon im Falle von Wakeman beschrieben: Wir hatten es dank mauerzeitlichem LP-Embargo stets mit unvollständigem Kram aus dem Radio zu tun. Zunächst bin ich noch ganz gespannt, schnell aber ernüchtert und erheitert, denn vor lauter Langerweile, während sich Tull da einen wegdudeln, beginne ich nun meinerseits mir eigene Übersetzungen für diesen seltsamen Titel einfallen zu lassen. Progrock-Lyrik übersteigt die Englischkenntnisse von 9.Klässlern exorbitant, aber schließlich weiß man, belesen wie man ist, was eine Brigg ist! Also: Geschlechtsverkehr von Segelschiffen? Fick wie’ne Brigg? Oder: Krank wie Brigitte? So die Art eben. Christian steck ich damit an. Er hält jedoch die Aufnahme durch und später in Ehren, während ich mich gleich zum Platzsparen entschließe und auf ein zweites Abspielen der Spenderkassette verzichte.

Von da an war es bei mir aus mit der Jethro Hype-erei. Zwar ließ ich sie als „ganz gut“ gelten, aber zur Verehrung fehlten da einige Meter! Obendrein war es ein sehr gutes Gefühl des Ausbruchs aus dem Mainstream. Ich hatte zeitgleich „Fame“ kennengelernt und war der einzige, der das mochte.

Hui, plötzlich war ich der Bowie-Fan, der Tull nicht so prickelnd findet und sich mit dem 50er Jahre-Kram auskennt!

Allerdings brachte mich das YES und Genesis keinen Meter näher.

Ein paar Jahrzehnte sind ins Land gegangen. Anfang der 80er hing die „Stormwatch“ von Tull im Intershop. Da das schon meine Bowieplattenbesitzphase war, schleppte sie prompt jemand an. Ich nahm sie auf und hörte sie vielleicht anderthalb Mal vor der Löschung. Nee, da zündete nix. Dann kamen mit 5jähriger Verspätung die Berichte über Andersons verdienstvolle Pferdezucht immerhin in die „melodie+rhythmus“, aber die dazugehörige Platte „Heavy Horses“ besorgen konnte rätselhafterweise keiner. Vielleicht hätte die das Zeug gehabt, mein Tull-Verhältnis zu reparieren. Es hätten sich da private Assoziationsmöglichkeiten zu Vaters Wunderpferdgeschichten angeboten. So blieb es bei sehr bescheidenen Jethro Tull Beständen in Bludgeons Archiv. Eigentlich steht da nur die Amiga-Lizenz-LP „a classic case – the London Symphony Orchestra plays Jethro Tull“ (unter Mitwirkung von Ian Anderson), die unter Tull-ianern gar nicht viele Freunde zu haben scheint, mir aber sehr gut gefällt.

Als ich zu Nachwendezeiten mal in den Genuss der „Minstrel in the gallery“ kam, entstand tief in mir sowas wie Reue: Wenn ein Teil DIESER Platte damals an Stelle von „thick as a brick“ auf jener geborgten Kassette gewesen wäre, dann wär wohl einiges anders gekommen.

15 Gedanken zu “On the Prog Path (5)

  1. Die Haken im Fleisch waren: Witch´s Pomise, Teacher und Inside. Danach die Stand up noch mit Mick Abrahams an der Gitarre, der dann Blodwyn Pig auf die Beine stellte.
    Von dem von dir beschriebenen Hype um Tull in der BRD habe ich nichts mitgekriegt. Es war die Zeit, in der jede gute Band, d.h. jede Band, die man gleich an ihrem speziellen Timbre erkannte, interessiert aufgenommen worden ist.
    Aqualung war und ist ein Oberkracher, dagegen konnte ThickBrick nichts ausrichten. War Child und Minstrel kamen in den Besprechungen besser weg. Na ja, dann kam jenes unselige Too old to…
    Aber Songs from the Wood und Heavy Horses rissen alles wieder raus.
    In den merkwürdigen 1980er Jahren konnte mich noch Crest begeistern. Dann waren aber sämtliche Tullzenithe überschritten.
    Andersons Soloscheiben sind hörbar und auch Kooperationen mit verschiedenen Orchestern, wo die Stücke in unterschiedlichen Interpretationen gespielt worden sind.
    Ohne Tull wäre der musikalische Kosmos des Prog-Rock ärmer…

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  2. Wir hatten vor Jahren Tull mal live. Damals wurde in Konzerten noch gequalmt, was die Lunge ertragen konnte.
    Klare Ansage von der Bühne: „Entweder ihr hört auf zu rauchen oder ich spiele hier nicht.“ Lässt durchlüften und nimmt konsequent erst dann die Querflöte in die Hand.

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    • Ein ähnliches Erlebnis hatte ich mit Haggard beim Harz-Rock-Festival in den Nullerjahren mal. Steht ein junger Vater im Publikum und hat seinen ca.3jährigen Sohn auf den Schultern. Der hat Ohrenschützer um den Hals. Aber eben nicht auf den Ohren. Der Haggard-Boss lässt nach dem ersten Stück den Applaus abflauen und macht die klare Ansage: „Du da! Dein Kleiner hat die Ohrenschüsseln nicht auf. Wir spielen nicht weiter, wenn er die nicht aufsetzt – oder ihr geht!“ Riesenapplaus und der Kleine gehorchte flugs. Mal abgesehen davon – dass es balla ist, so ein Würmchen schon zum Festival mitzuschleppen.

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  3. Hach … so kann nur ein leidenschaftlicher Musikliebhaber schreiben (das gilt jetzt für alle „On the Prog Path “ Beiträge !!!), so kann nur einer schreiben, dessen Herzblut auch für jene Musik schlägt … die ich einfach mal als „klassische Rockmusik“ umschreiben möchte. Da sag ich nur: großartig !

    Herrn Ärmels Einschätzungen weiterer Tull Alben teile ich … „Songs from the Wood“ und „Heavy Horses“ markierten zwar eine Wende von Tull zum Folk-Rock … aber sie bereicherten dieses Genres mit 2 markanten Alben …

    Und natürlich fällt mir ein … dass wir in meiner ersten Band (wir nannten uns „Dying Sun“) … „Locomotive Breath mit im Programm hatten … das ging allerdings nur, weil wir einen Organisten hatten, der auch der Querflöte mächtig war … und da stand er auf der Bühne, mit einem langen Mantel, und aus der einen Seitentasche ragte eine Whiskyflasche … und er blies sich die Seele aus dem Leib … und ich hämmterte auf dem Bass diesen Megariff … bis die Finger bluteten .. (na ja … oder so)

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      • Laut „Musiklegenden des Ostens“ bei jotwede-online gab es nach der Wende mal ein Konzert in Kamenz, wo Electra als Vorband von Jethro Tull agierte. Das war dann eine einmalige Sache. Dort steht, dass Aust meinte, dass Veranstalter Fritz Rau meinte, dass Ian Anderson wohl die Konkurrenz fürchten würde. Ob das stimmt, lässt sich von mir nicht nachprüfen.

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      • Klingt interessant. Ich kenne nur das Austzitat (weiß aber nicht mehr aus welcher Internetradiosendung): Habe mir gleich nach der Wende endlich mal Jethro Tull Live gegönnt. War schön. Aber man hört dann, dass die auch nur mit Wasser kochen.

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