„…my future in the system was talked about and planned
but I gave it up for music and The Free Electric Band!“ (Albert Hammond)
Nee, seine Zukunft war überhaupt nicht geplant. Er starb mit 52 Jahren – am Alkohol. Das Hammondzitat passt trotzdem, wie man gleich noch sehen wird, denn auch er hat viel aufgegeben. Von vornherein. „Egal“ hätte sein zweiter Vorname sein können. Aber er hieß Eckard.
Ich erfuhr es von einem Klassenkameraden, den ich immer gern aufsuche, wenn ich in der alten Heimat bin, um mich auf den neusten Stand bringen zu lassen. So auch im Frühjahr 2012:
„Ecki is’ tot. Mir hams och erst alle jetz erfahrn. Soll schon im Novembor bassierd sein. Keene Hand wollte seine Sippe fürn rührn. Die wurdn’s’ch nich einich, wer de Beisetzung bezahlt. Wemmors gewussd hättn, hätch für‘n gesammelt. Du hättsd doch bestimmt ooch was jegähm?“
„Aber klar!“
„Nichema a Kranz hadde nu von uns. Mir wissen jarnich, woä liecht. Offm Neuen Friedhof draußen, abor wo da?!“
Niemals geht man so ganz! Auch von Ecke soll was bleiben. Wenigstens das hier:
Eckard Sch. kam, wie hier bereits beschrieben, in der 5. Klasse durch „Sitzenbleiben“ zu uns in den Jahrgang. Ich begann krankheitsbedingt das 5. Schuljahr erst im November. Also kannten alle „Ecke“ bereits, nur ich nicht. Ich staunte über seine „fetzige“ verrottete Aktentasche und über seine Zeichnungen. Ecke konnte mit 12 bereits Halbprofil zeichnen, Nasen und Wangen so schraffieren, dass sie plastisch wirkten –
Gerd Müller kurz vorm Flankenschuss, in Schräglage, wehende Mähne, ein ausgestreckter Arm, die Kniee sehen wie Kniee aus, den Ball vor dem Fuss — das war Action pur!
– bis dahin hielt ich MICH für das Maltalent, jetzt bekam ich Komplexe.
Dabei war er die coolste Socke, die sich denken lässt – ausgestattet mit dem trockensten Humor der östlichen Hemisphäre und einem Aussehen, das ihn ab Klasse 7 jeden Albert-Hammond-Doppelgänger-Wettbewerb hätte gewinnen lassen.
Frühsommer’73. Der schmale Flur vor Raum 15 war es. Die 6a wechselte in Richtung Kunstraum. Die 8b, also die „Erwachsenen“ (aus 6.Klässlersicht) kamen entgegen. Darunter – sie: Iris.
Schwarze Wuschelmähne, braune Haut. Bekleidet mit einem leuchtend weißen Nicki. Nein – T-Shirt. Darauf ein weiterer Wuschelkopf und die Überschrift: T.Rex !
Bisherige Nickis waren bunt, gemustert, gestreift oder mit Motivdruck rundum versehen. Die Mode einfarbiger T-Shirts mit nur einem Motiv auf der Brust kam gerade erst auf.
Das Motiv flashte mich mehr, als die schöne Iris es eh schon tat. Ecke erging es ähnlich. Wer von uns beiden sagte eher „Wow! Fetzt!“?
Dämlicher Weise verführte mich mein Schicksal in Besserwissermodus zu schalten:
„Muss das nicht The Rex heißen?“ In der 6.Klasse hatte man kein Englisch, also sagte ich frei von allem Tie-äitsch-Wissen auch noch „Tehä“! Und das vor Ecke!
„Du bist och Tehä. Tie Rex heest das, du Gnom! Kennste Hotlaaf – a hädä woman dudu, ahädälaf tu-dupidu a-haha?“
Natürlich kannte ich es nicht. Die Radiosucht entstand soeben erst zaghaft. Ecke hatte einen älteren Bruder und sowieso viel Umgang mit Altstadt-Kids, die zwar schulisch eher nicht so mitkamen, aber über bergeweise Spezialwissen verfügten, a la biografische Fakten von Bundesligaspielern, verstörende Dr.Sommer-Informationen der BRAVO von Jungfernhäutchen und Samenerguss und die West-Hitparaden von UKW-Sendern kannten, von deren Existenz ich ebenfalls gerade erst erfuhr.
„Starkes Bild.“, schob ich noch nach.
„Schade dasse heute Hosen anhat.“, antwortete Ecke, der sichtlich nicht bei der Sache war und ob dieser Bemerkung nicht einmal rot wurde. Also waren nicht nur mir zuvor schon diese Beine aufgefallen, wenn sie Mini trug. Ich schaute fragend zu ihm, aber er nicht zu mir:
„Gugge dir ma‘ den Scheiß an! De 5. musste wüddor Parade maln!“, lenkte er ab und wies auf den alljährlichen Wandfries bestehend aus lauter Panzerbildern; Tuschzeichnungen zum Tag der Befreiung. Zu sehen waren lauter 08/15 Panzer, alle am Turm verziert mit einer weißen „102“.
Also alles „Rudis“ – so hieß das Gefährt der „4 Panzersoldaten und ein Hund“-Serie. Kein Schwimmpanzer, keine Zwillings-Flak, wie wir sie ein Jahr zuvor dazwischensetzen konnten, weil wir solche Schwungradmodelle hatten; nur fast schabloniertes Einerlei.
„Einfallsloser Scheiß.“, stellte Ecke fest, „Kee Wunder. Die 5er ham nischt droff. Bloß de große Schnauze.“
Das Einerlei des Alltags hatte uns von Iris abgebracht. Für die waren wir eh nur Sandkasten-Stippies.
–
In der 7.Klasse bemerkten wir, dass mancher, der älter war, zur Selbsthilfe griff, weil es im Osten immer noch keine T-Shirts mit Brustmotiv gab. Die psychedelisch angehauchte Färberrosette vorn drauf wurde Standard.
Ecke, der kein Taschengeld erhielt, verschaffte sich ein Einkommen und Zigarettenvorrat, in dem er immer und immer wieder 2 Schattenrisse malte, die Tage später mysteriöser weise auf T-Shirts an der Schule auftauchten.
„Wer sindn die?“
„Gennsde nich? Das is Hendrix und das is dor Tsché.“
„Rocker?“ wagte ich unsicher nachzufragen.
„Hendrix ja, der is schon tot. Rauschjift.“
„Und der Tsché?“
„Das is örchendswie ä Gumbl vom Gasdro. Ä Bardisahn of Guba.“
„Ooch dohd?“
„Wes-sch nich. Sollchn dir maln?“
„Nö.“
„Bloß Zweefuffzich oder ne Schachdl alte Juwel.“
„Nee-nee.“
„Dir habch noch nie was gemalt, stimmts?“
„Weilichs selbor gann.“, log ich selbstbewusst. So gut wie Ecke bekam das niemand hin.
Ecke ließ aber heute nicht locker.
Der Tag bedurfte dringend einer Auflockerung, warum nicht Bludgy frotzeln: „Willste nich? Suzi Quatro? Mit und ohne Glamodtn? Odor örchens ä Fussballor?“
„Ha-Ha.“ buchstabierte ich zynisch. Meine epochalen Sportleistungen und mein dementsprechendes Interesse an der Materie waren neulich erst wieder Sensation geworden, als der Sportlehrer fragte: „Was guckst du denn lieber? „Sport Aktuell“ oder „Sportstudio“?“, und ich wahrheitsgemäß schulterzuckend antwortete: „Rauchende Colts“!
„Gomm schon! Ich mal dir den Netzer! Oder Müllorn! Die gehen am schnellsten. Beckenbauer? Ducke? Croy? Breitner! Der hat’ne geile Mäcke! Overrath! Aber für den musste mir ne Vorlage besorchn.“
Um das Thema loszuwerden, weil einige uns schon umstanden, stöhnte ich genervt auf: „Helmut Schön.“
In das begeisterte Losprusten der Allgemeinheit setzte Ecke kalt nach: „Mit oder ohne Mütze?“
Frenetisches Gejohle von allen Seiten brach sich Bahn:
„Habdor das jehört?“
„Bludgy un Ecke! Ey! Eener beglopptor wie dor annore!“
„Der malt dem jetze allen Ernstes den Schön, ey!“
„Bludgy! Den musste dann abor och offhäng!“
Ecke wieder: „Gloar, macht der das! Un‘ danehm Ifizer Zerfetzi!“
Neuerliches allgemeines Massenbekringeln, denn dass man den Namen des obersten Adriasound-Mutti-Beglückers („Oh Maria Maria-Helena“) SO aussprechen kann, war bis zu diesem Moment auch noch keinem eingefallen.
Ich, der ich mich bereits für den kommenden Noddy Holder Zwo zu halten begann, auch wenn ich den Namen meines damaligen Vorbilds natürlich nicht kannte, konnte nur gefrustet den Lachschwall abprallen lassen und Ecke anzischen: „Du willst ja och ma wüddor Russ’sch Hausofgahm.“ Und Abgang Drama-Prinz.
–
Sommer74: Rumänienurlaub. Ein epochaler Reinfall der Familie, aber auch T-Shirt-Beute für den Sohn. Eins davon – babyblau mit dem Konterfei eines Schäferhundkopfes in schwarz/Halbprofil mit hängender Zunge vorn drauf.
Erster Schultag 8.Klasse: Ich in Erwartung der allseitigen Beneidungslawine im Schäferhund-Outfit. Aber Andi war aus dem Polen-Urlaub zurück und hatte eine Zorro-Gürtelschnalle. Der stach mich aus.
Ein paar Bemerkungen gab es immerhin trotzdem:
„Guhles Hemd.“
„Wo’s das heor?“ ; aber leider auch „Ä Tichergobb wär‘ bessor gewäsn.“
Dann Kommentar Ecke: „Manche häng sich T.Rex übbor de Titten un bei Bludgy reicht’s ähm nur of Rex.“ Gelächter.
„Oh Mann, Ecke, ey! Bist du ein Aaaaarsch!“
–
Einige Tage später dann die verblüffende Entdeckung, dass er statt Hendrix, Ché und den üblichen Verdächtigen – Hundeköpfe malte.
„Huch. Du und Köter malen? Wie kommts?“
Er wies auf das Konterfei auf meinem Bauch: „Geile Perspektive. Aber der guggd zu freundlich. Wie krichste bei a Götor hin, dasse böse guckt?“
Das war ihm eine spannende Herausforderung für viele langweilige Ma-, Deu-, Phy-, Geo-, Ru-, Stabü-Stunden der nächsten Tage…
Kunst hatten wir unpassenderweise beim Mathe-Lehrer, der auch eine Sport-AG betrieb. Das war eine Fächerkombination, die es in der „Ehemaligen“ eigentlich gar nicht gab. Dieser wiederum hatte somit das Problem, dass Ecke in Mathe stets nur körperlich anwesend- , in Kunst aber sein bester Mann war.
Die 8.Klasse sah vor: Selbstportrait mit Tempera-Farben. Die besten sollten wie immer im Treppenhaus ausgehängt werden. Alljährlich war das ein heiteres Rätselraten für die anderen Jahrgänge, wer da wer sein soll, oder wem die Honigkuchen-Grins-Grimassen noch so ähnelten.
Nun waren wir dran und unsere Allround-Lehrkraft hatte sich was Besonderes einfallen lassen.
„In der Mitte des Bildes euren Kopf. Denkt dran: Augen nicht ganz oben ins orangene Ei, sondern in die Mitte. Und weil bisher trotzdem zu wenige hinterher erkannt werden konnten, malen wir mal dieses Jahr über beide Schultern etwas, was verrät, wer du bist, oder sein willst…“
Er skizzierte an der Tafel: das Kopf-Ei, links dahinter Zirkel, Winkelmesser, Lineal – rechts Turnschuhe…
„So würde ich das für meine Person entwerfen. Malt einfach einen Hinweis auf euren Berufswunsch oder euer Hobby. Ecke! Keine Zigaretten!“
Wir legten los. Mit hauchdünnen Bleistiftstrichen. Herr L. ging von Bank zu Bank.
Bei Eckard blieb er meist am längsten stehen, um wie gewohnt eine erbauliche Floskel abzusondern in der Art: „Ja, dem Eckard kann ich in Kunst nichts beibringen. Weil er alles schon kann. Toll wiedermal. Du solltest Kunst studieren. Aber da müssteste dich ebm auch mal um Mathe und so weiter kümmern.“
Ecke mit müdem Augenverleihern: „…und da dran wörds scheitorn.“
Diesmal kam es anders: Ecke skizzierte sich in aller Mähnenpracht. Links dahinter einen Schäferhundkopf und rechts ein Panzervorderteil, schräg nach oben gerichtet, als käme es gerade eine Steigung herauf.
Herr L.: „Huch! Ecke! Du willst Berufssoldat werden? Das wär mir ja in meinen kühnsten Träum‘n nicht eingefalln.“
Ecke: „Is och falsch indorbrädiert.“
Herr L.: „Na wieän dann?“
Ecke (wie immer ohne jedes Mienenspiel und mit Grabesstimme): „Ich sehe mich als dn schärfstn Hund dor Warschauer Vertrochs-Schdahdn!“
Einige sprangen auf um auf Eckes Blatt zu gucken, kichern und „Hor-hor-hor“-Rufe mäanderten durch den Raum.
Herr L. kniff sich in die Nasenwurzel und schloss einen Moment die Augen. Dann kam sein Konter: „Nu hastes verkackt, Ecke. DAS Bild kann ich nich mehr in’n Flur häng.“
Die Lage beruhigte sich wie auf Knopfdruck. Kommt jetzt ein Zusammenschiss, wie wir ihn von unserer Klassenlehrerin gewohnt waren? So ins Politische gezogen? Fehlender Klassenstandpunkt und so?
Von irgendwoher kam die sensationslüsterne Frage: „Was gehm sen dem für das Bild jetze?“
Und von anderer Seite: „Hä, Ecke, jetz‘ komm‘ och in Kunst noch 5en!“
Aber die eigentliche Sensation fiel ganz anders aus: Herr L., inzwischen wieder vor der Tafel, guckte in die Runde, genoss die mehr oder weniger mitfühlende Erwartung seines Gottesurteils für ein-zwei Sekunden, zuckte dann die Schultern und sprach:
„Was ich ihm gebe? Na die 1 musser schon kriegen. Malt erstmal einen Panzer aus DER Perspektive!“
Aber im Flur ward das Kunstwerk nie geseh’n.
Ecke, du fehlst!
Werd’sch nie begreifen, warum das alles so war und is.
Klasse Geschichte, diese Erinnerung ist mehr wert als jeder Kranz.
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„…mehr wert als jeder Kranz.“ Ja. so empfinde ich das auch.
Und ich glaube, selbst für Herrn Sch. darf man das vermuten.
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Der beste Nachruf, den ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Warst du inzwischen auf dem Friedhof und hast an seinem Grab gestanden?
Eine Devotionalie hat Herr Sch. jedenfalls verdient.
Und wenns bloss ne Schachtel Zichten wäre….
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Ja, ganz starker Nachruf, sowat wäre mir auch lieber als ein schnöder Kranz.
A hädä woman dudu a-haha hätte man vielleicht auf der Beerdigung spielen sollen, aber wahrscheinlich hat niemand dran gedacht. Ich glaub ich mach mal vorsorglich ne Liste…
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Volltreffer. „A häd a woman …“ hätte absolut gepasst, denn über Freundinnenmangel konnte er sich im späteren Leben absolut nicht beklagen. Außen Hammond und innen Rod Stewart sozusagen. Allerdings verblüffenerweise ganz ohne Nachkommen.
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Ich glaub nicht, daß ich jemals einen besseren Abgesang gelesen habe, lieber Bludgie, allererste Klasse! Schad, daß der, für den´s am Wichtigsten wäre, daß er es liest, tot sein muß, damit sowas Wundervolles überhaupt geschrieben wird!
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Warum sollte die andere Seite nicht mitlesen?
Was wissen wir schon? 😉
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Seherin? Hexe? Kieken Se ma‘ in meinen upcoming post, wie es neudeutsch so schön heißt. 🙂
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Ja, richtig, was wissen wir schon.
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Beides und weder – noch und dazu noch ein Quäntchen Zufall, Bludgeon.
Hauptsache, es funktioniert! 🙂
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Solch einen Nachruf voll der Wahrheit las ich vorher nie!
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