Kastanien III

Der Moderator auf HR3 verstand seinen Job. Kein Frohsinnerzwingendes Dampfgetalke, wie heute üblich, sondern sachliche Information über den Ostpreußen, der nach Amerika ging, eine Band gründete, die er nach einem Roman von Hermann Hesse benannte und mit der er den folgenden Hit landete:

Like a true nature’s child
We were born
Born to be wild
We can climb so high
I never wanna die
Born to be wild
Born to be wild

Der Teeny da hinter dem eisernen Vorhang hatte gerade „Wolfsblut“ von Jack London gelesen, „Steppenwolf“ schien so was ähnliches zu sein. Ein Ostpreußen-Ami am Mikrophon – klar, dass da beide Daumen die Tasten drückten und „Born to be wild“ aufs Band bannten, gleich hinter „Band on the run“ von Paul McCartney & the Wings. Da es sich um eine Oldies-Sendung der Mit70er handelte, gerieten gleich dahinter noch the Move mit „I can hear the gras grow“ und Janis Joplin mit „ a woman left lonely“ und somit entstand eine Kassettenseite, die regelrecht durchsichtig gedudelt wurde – damals 1976!
Heute klingt die Originalversion derart abgedroschen, dass ich lieber auf die CD „RENFT live 2010“ verweisen möchte: 10 Minuten „born to be wild“, gespielt von Gisbert Piatkowski an der Gitarre, der sich durch die Rockgeschichte zitiert, dass es SEINE Art hat!

I like smoke and lightnin‘
Heavy metal thunder
Racing in the wind
And the feeling that I’m under

Der Teeny aber wurde 3 Jahre später 19 und kam zur Armee. Und obwohl er alles, was mit dem Thema NVA zu tun hat, bis heute konsequent verabscheut, muss er in einem Punkt doch eine Ausnahme machen: Der Drill, die Schinderei und die Erniedrigung bescherte ihm eine ruckartige Erweiterung seines literarischen Horizontes: Leseratte war er nicht wegen- , sondern TROTZ des erfolgten  Deutschunterrichtes geworden! Literarische Bandbreite bekam er nun nicht wegen etwaiger propagandistisch gewollter Erleuchtungen, sondern TROTZ verordneter, gewollter Verblödung. Bisher musste sein Lesestoff „Action“ haben! Abenteuer! Kampf! Wildwest, Mittelalterschlachten und die Weltkriege! Denn der Schulalltag war langweilig genug!

Nun aber gab es ungewollt mehr Abwechslung, als ihm lieb war: DDR = Dampf, Druck, Reviere; womit das „Stuben-und Revierreinigen gemeint war, dass von den „Zwischenhunden“ genüsslich zur Domestikation der „Glatten“ genutzt wurde. Entwürdigungen nach dem Dienstdrill, die zehrenden Hass erzeugten!

Um wachsende Amok-Gelüste weiter aufschieben zu können, musste beruhigender Lesestoff gefunden werden. Wunderbarer Weise hatte ein Kamerad desselben Diensthalbjahres ein Fischer-Taschenbuch mit Hesse-Novellen im Spind. (Hesse – zum Zweiten!) Der Name gewann an Bedeutung: Heumond, der Zyklon und zwei weitere, die aber gegen diese beiden nicht ankamen, waren der Inhalt des Bändchens. Beim Lesen wunderte sich Großmutters Enkel noch, dass ihm derartig impressionistische Handlungslosigkeit plötzlich gefiel. Zuhause hätte er das nie zu Ende gelesen! Jetzt aber, auf dem Hocker vor seinem Spind im Koloss von Prora, sah er sich beim „Heumond“ lesen selber wieder zu Hause im Garten unter dem Nussbaum, wie er sich da genüsslich durch einen Meter „Alexandre Dumas – Gesammelte Werke“ fraß … und der „Zyklon“ zauberte ihn zurück zu jenem denkwürdigen Wolkenbruch, als er ein wenig zu spät aus der Badeanstalt am Blütengrund aufbrach, um daheim die Schildkröten aus dem Garten zu bergen, bevor dieser in den Wassermassen ersoff. 13 war er damals. Als Held hat er sich gefühlt. Gegen die Strömung der Sturzbäche, die vom Buchholz her herunter tobten, schob er sein Fahrrad bergauf, den Monsunguss von oben stoisch ertragend, an der Frage kauend: Wie lange würden zwei Landschildkröten diese Wassermassen aushalten? Ab wann droht ihnen die finale Lungenentzündung?

„Tür aaaauuuuf! Erstes Diensthalbjahr rrrrraustretten zum Sssstuben-und Revierreinigen!“ Da brüllt er wieder, der Fischkopp mit dem Karpfenblick. Klippenkotzer, der! Rostocker! Freigeben für Kernwaffentests sollte man das Kaff, dass solches Pack gebärt!
Ich lese gerade die letzten Sätze des Zyklon und trete als letzter „raus“. Wie immer bekomme ich das “Scheißhaus dritter Zug“ als Revier. Das hatte ich abonniert, weil ich einen wahrheitsgemäßen durchaus gebremsten Wandzeitungsartikel geschrieben hatte, über die ersten 14 Tage bei der NVA. Eigentlich enthielt der nur einen wirklichen Kritikpunkt: Kein warmes Wasser für die Mannschaften. Eigentlich hätte mir das die Kameradschaft aller Diensthalbjahre einbringen müssen, aber stattdessen gebärdeten sich besonders der Rostocker Textilflacharbeiter und der Bützower Fliesen- le-schräger als die Rächer der NVA: „Der Sachsensau gefällt das wohl nich hi-ehr? Du? Das magst kaum glauben, du?“

Heute war’s egal: Einmal mehr sah ich davon ab, einen von denen im aufgedrehten Pissbecken zu ersäufen. Früher nur aus sachlicher Einschätzung meiner muskelmäßigen Unterlegenheit; heute, weil ich über das gerade Gelesene nachdachte:

Der Zyklon beschreibt die Stimmung eines jungen Mannes, der für eine Müllerstochter schwärmt, an die er sich jedoch nicht heranwagt. Deshalb „stalkt“ er die Mühle, würde man heute sagen. Ein Unwetter braut sich zusammen. Er verlässt seinen Beobachtungsposten am Berghang und will nach Hause – muss sich aber unterwegs unter stellen und den Wolkenbruch abwarten. Als der Himmel wieder klar ist, erreicht er „seine“ Straße und erschrickt. Der Sturm hat alle Platanen geknickt. Seine gewohnte Jugendidylle gab es nicht mehr. Alles wirkt fremd.
Die aussichtslose Liebe, die kreuz und quer liegenden Bäume, die zertrümmerte Kindheit – nun hielt ihn hier nichts mehr. Er war bereit Abschied zu nehmen.

Die Melancholie der Erzählung besänftigte den in mir brodelnden Orkan. Ich grübelte beim Schrubben, welche Allee in der schönsten Stadt der Welt ein Sturm wohl knicken müsste, damit ich so denken könnte wie Hesse.

Lindenring? Medlerstrasse? Lepsiusstrasse?

Ich würde vermutlich trotzdem nicht wegwollen!
Dann kam der Kompanieurlaub. Runter von der Insel! Befreit und voller Vorfreude fuhr ich gen Süden: Dort würde ein Plattenpaket auf mich warten, wenn der Dealer kein Betrüger ist!
Ich laufe beschwingt vom Bahnhof im Saaletal hinauf in die Stadt, nehme die Stufen am „Goldenen Hahn“ mit Schwung, erreiche die Kreuzung am Knast – und die Reisetasche fällt mir aus der Hand! Ich stehe wie erstarrt. DAVON hat mir niemand geschrieben:
Nackt liegt die Kreuzung vor mir. Die hässlichen 08/15 Neuzeit-Mauern vor dem Hauptgebäude sind sofort gut zu sehen, denn nichts verstellt den Blick: DA IST KEINE KASTANIE MEHR!
Hesse brauchte eine ganze Allee. Mir reichte ein Baum. Meine Stadt war nicht mehr dieselbe.
Nun war ICH Hesse. Ob ich wollte oder nicht: Die Kindheit war vorbei.

8 Gedanken zu “Kastanien III

  1. Born to be wild fand ich schon immer abgedroschen, den Pusher war schon auf dem Easy Rider Soundtrack das bessere Stück von Steppenwolf.
    Ansonsten mal wieder ne tolle Geschichte, beim Bund fand ich statt besserer Literatur nur erhöhten Alkoholkonsum vor. Und natürlich reichlich ähnliche Idioten mit Abzeichen. Allerdings sind die bei unserem Haufen vorsichtiger gewesen, seitdem mal nachts jemand gegen ein paar Klappspaten gelaufen ist.

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    • Die Magic Carpet Ride ist eigentlich mein Lieblingstrack von denen geblieben. In die erste Liga haben sie es allerdings bei mir nie geschafft.
      Mit der Rache an Schindern sah das bei der Kesslerschen Trachtentruppe armselig aus, weil diese knastmäßige EK-Bewegung wirksam durchorganisiert war:
      Immer das 3. Diensthalbjahr hat Ruhe (EKs = Entlassungskandidaten).
      Das 2. Diensthalbjahr (Zwischenhunde) schindet das erste;
      das erste Diensthalbjahr (die „Glatten“ = glatte Schulterstücke, noch nicht geknickt, weil noch kein Halbjahr rum) lebt in der „Vorfreude“ 2. Diensthalbjahr zu werden und die Neuankömmlinge zu schinden…

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  2. Immer wenn ich Hermann Hesse lese, krieg ich große Ohren und Augen … so natürlch auch hier.
    Und das führt mich natürlich sofort zur US-Band Steppenwolf (mit dem Joachim als Sänger).
    Und über „Born To Be Wild“ lasse ich gar nichts, aber auch gar nichts kommen. Für mich die definitive Hymne jener Zeit und das nicht nur ween dem Film „Easy Rider“ (der heute ganz anders, belangloser auf mich wirkt, wie damals).

    Und dwas die gefällten Kastanienbäume betriff … Deine wiedermal sehr intensiven Worte dazu haben mich an den Schweizer Maler Jürg Müller. Der hat mit seiner Bildermappe “ Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder“ im Jahre 1973 auf jene landschaftlichen Veränderungen aufmerksam gemacht, die halt der Fortschritt so mit sich bringt. Heute noch empfehlenswert, und vielleicht werde ich glatt demnächst darüber in meinem blog berichten.

    Und das auch noch. Die „Magic Carpet Ride“ Fassung von Renft, ja, die haut auch so richtig rein ! Respekt !

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  3. Das könnte die Verbindung sein: bei uns verschwand zu beiden Seiten Lummerlands die alte Kastanienallee. Am südöstlichen Ortsausgang wurde vor etlichen Jahren eine neue Allee angelegt nach der Strassenverbreiterung und am westlichen Ortsausgang haben sie noch sieben der alten Recken stehen lassen. Wenigstens das.

    Born to be wild klingt durch ewige Wiederholungen etwas ermüdet in meinen Ohren, ich stimme allerdings Herrn Riffmaster zu: es war die definitive Hymne der Zeit.
    Magic Carpet Ride gefiel und gefällt mir jedoch besser. Und der Pusher natürlich. Und einige wunderschön romantische Balladen fallen mir jetzt auch noch ein.

    Von Hesse sind mir die Altersgeschichten inzwischen näher als die Kinder- und Jugenderzählungen.

    Beim Verein der bewaffneten Bundesförster war ich nie. Dafür hätten sie mich einbunkern müssen.

    Auch diesmal meinen Dank für den atmosphärisch vermittelnden Bericht.

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