Kastanien II

(in memoriam Eckard Sch. 1959-2011)
(Fortsetzung von „Unterstufenkrieg“ und „Traumschwimmer“)

Das 5. Schuljahr unterschied sich doch sehr von den 4 vorangegangenen. Die neue Klassenlehrerin stieß uns auch wieder aufs Kastanienthema. Doch zuvor muss noch eine wichtige Person für das Folgende vorgestellt werden: Die beste Neuerung der 5.Klasse war er: Eckard! Ursprünglich ein Jahr vor uns eingeschult. Aber er blieb sitzen und kam somit in unsere Klasse.
„Ecke“ war anders als die übrigen Sitzenbleiber. Er war ein Phänomen!
Er hatte eine beeindruckend speckige Aktentasche statt eines „Ranzens“, darinnen das ein oder andere Lehrbuch nach Zufallsprinzip, einen schmuddeligen Schreibblock; Hefter eher nicht. Aber: Sauberes Zeichenpapier! Er war ein Maltalent, ein Kunst-Genie, das OHNE Vorlage Günter Netzer, Beckenbauer, Ducke, Croy, Hendrix und Suzi Quatro malen konnte und MIT Vorlage alle anderen, die damals wichtig waren. Obendrein verfügte er über den abgetrocknetsten Humor, der sich denken lässt. Immer cool, mit eingefrorener Mimik, schoss er seine Pointen ab mit einer eigenartig kaputten Stimme tiiiief von den Bronchien her.

Wie bekam er seine Wahnsinnsstimme, diese unheimlich geile die wahnsinnig schlimme – er hat ne Mülltonne aufgeklappt, reingeguckt und kräftig Luft geschnappt. (Udo L.)

Lehrer: „Hier die Hefte vom letzten Mal: Connie 1 wie immer, Bärbel 3 wie meistens, Martin, Holger, Andreas 2 und Eckard — 5 wie schon im letzten Jahr.“
Eckes Kommentar mit ironisch traurigem Hundeblick zu mir: „Davon habch nu schon ä Geller voll dahehme.“, und nahm sein Heft mit Achselzucken an sich.

Abgebrüht und ruhig saß er, krumm wie ein Kondor, in seiner Bank, direkt vor mir; immer seitlich, damit die Langeweile an der Tafelfront durch eine kleine Alberei mit mir oder meinem Banknachbarn ausgeglichen werden konnte. Er knabberte pausenlos an seinen Fingernägeln und Nagelbetten und sah dabei aus wie Albert Hammond in jung. Seine schwarze Lockenmähne war allerdings als männliche Langhaarfrisur keine Sensation mehr. Obwohl die Mehrheit von uns noch ohrenfreien Rundschnitt trug.

Den ersten Langhaarigen hatten wir bereits in der 3. Klasse abbekommen: Lukas – der Pastorensohn. Seine Familie war frisch zugezogen. Die Eltern des Elternaktivs waren seinerzeit vor dem verderblichen Einfluss des Pastorenkindes gewarnt worden. Verwestlicht, vernachlässigt, kein guter Umgang „für ihr Kind“ und „bitte nehmen sie in geeigneter Art und Weise Einfluss“. Das war gründlich misslungen. Luckie war sofort Vorbild für uns. Unsere Eltern hatten von nun an die Friseurdiskussionen auf dem Hals. Lukas brachte die BRAVO mit, sammelte in der 4. Klasse Zigarettenkippen, um sie in der Pfeife aufzurauchen , kaupelte mit Bleisoldaten, Sammelbildern und ganzen Zigarettenbilderalben, rauchte „richtig“ ab Klasse 5 und spielte in Klasse 6 auf dem Klavier im Musikraum in der Pause: Rock& Roll! „lets häffäpaaahdi — huuuu!“, „wommpommpahdiinnacowboydschail….“ Und auf Deutsch:

Ich geh aufs Klo wenn ich mal muss und geb der Klofrau einen Kuss. Das ist der Scheißhausrock – der Scheißhausrock- der Scheißhausrock&roll!

DER war der King. Aber Ecke war das Original, das ihn im Wortgefecht alt aussehen ließ.
Irgendwann einmal unterhielten wir uns über „alte Zeiten“ in der Pause vor dem Werkunterricht.
Ich platzte heraus: „Weißte noch, was uns unsere Eltern für Horrorgeschichten über Luggie erzählt hamm?“
Der wurde hellhörig. „So? Wassn da?“
Ich: „Na – schlechter Einfluss und so. Assi-Gefahr ehm.“
Er nimmt Angriffstellung ein, spreizt die Finger zu Krallen und faucht: „Jaaaa! Pastorensohn! Kirche! Huuu! Ich könnte euch alle kreuzigeeeeeen!“ Ein paar kichern.
Ecke presst mir die Arme an den Körper: „Hasstä Hammer mit. Ich haltn fest.“
Gröhl!

Minuten später im Werkunterricht: Die Lehrerin hat uns beauftragt, Brettchen über Eck aneinander zu nageln, die später ein Holzkästchen ergeben sollten. Ecke (linke Außenreihe) hält den Hammer hoch und ruft laut flüsternd: „Luuuukaaaas!“ Dann zeigt er auf den Hammer und auf mich. Luckie (rechte Außenreihe) hat prompt 3 Nägel in der Hand und küsst die feierlich. Meine Werkbank stand in der Mitte. Ich sehe von einem zum andern, schlage die Unterarme übern Kopf zusammen und rufe: „Neeeeein! Ich will nicht!“ Die Werklehrerin, die eben aus dem Materialkabuff zurückkehrt, antwortet prompt ohne Überblick über die Lage: „Doch Bludgy! Du musst – wie alle.“ Luckie und Ecke kriegen sich nicht mehr ein. „Bludgy, du bist tot!“

Aber da waren ja noch die Kastanien, die auf Grund eines historischen Umstandes „Ecke-Bewandnis“ bekamen.

In der 5. Klasse ereilte uns auch ein weiterer Klassenlehrerinnenwechsel zum noch Schlimmeren:
Eine karrieregeile Durchreißerin. Nachmittäglicher Schlendrian adieu! Frau M. wollte die unter ihrer Vorgängerin völlig in Vergessenheit geratenen Pioniernachmittage mittwochs wiederbeleben. Aber niemand hatte Lust mitzumachen.
Einer ihrer alljährlichen Herbsteinfälle war: Basteln! Kastanien und Eicheln „aus dem Garten“ mitbringen und wer hat – abgebrannte Streichhölzer! Erscheinen Pflicht!

Allseits Pausen-Gemaule:

„Habgee Gartn!“
„Wo sollmern Gastanchn härkrieng?“
„Die schbinndoch, die Alte!“
„Binch erschde Glasse, odor woas!“
„Basdln für de Muddi!“ „Nee, für Vietnam!“
„Meine Muddor schmeißt den Scheiß eh glei in de Donne.“

Aber da auf Petzen Verlass ist, wusste sie immer in der nächsten Stunde schon bescheid:

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass einige von euch ein Kastanienproblem haben. Wer von euch zu dumm ist, die Bäume in der Stadt zu entdecken, der geht rauf ins Buchholz! Da gibt’s auch reichlich Kastanien, gleich am Bürgergarten! Und ob ich spinne oder nicht, dass entscheidet nicht ihr! Wer hier die große Lippe riskieren will, muss erst mal was geleistet haben. Da seit ihr weit davon entfernt!“

Wo sie auftauchte, vergletscherten die Räume. Spontaneität erstarb. Niemand muckte auf.

Deshalb fiel das Resultat in der Pause darauf wie folgt aus:
Ecke: „Bis ins Buchholz! Ich geh an’n Gnast, gucke ob geenor guckt und schon habch meine Gasdanchn for denn Knääd!“
Dietmar: „Na ich geh och nich weitor! Ehnma übern Lindenring, da findch och was.“
Ecke: „Offm LINDENring? Impfe, du bist beglobbt.“
Er wendet sich an alle: „Habbtor das jehört?“ und weiter väterlich resignierend: „ Die Impfe sucht Gastanchn offm Lindenring!“
Prompt brüllts von irgendwo: „Impfe! Gehste och mittn Vogelbauer Milch holn?“
Aber Ecke ist der Lage gewachsen und setzt einen drauf: „Nee, der muss bloß offpassn, dasse später ma keen Ichel fickt, weilä ma was von anstachln jehört hat.“ Gröhl!

Ein neuer Dauer-Gag war geboren.
„Dietmar, genannt die Impfe – oder dor Gastanchn-King vom Lindenring!“

Eines Tages dann passiert’s: Dietmar fehlt. Der Lehrer der 1. Stunde fragt die Klasse, wo er ist.
Lukas: „Der is Gasdanchenn suchn.“ Massenkichern!

Verdutztes Lehrergesicht, deshalb Nachsatz Detlef: „Dabei haddor sich verloofm, blöde wiä is!“

Sich steigerndes Gelächter!
Desgleichen die Verdutzung auf Seiten des Lehrkörpers.
Was wiederum die Freude der Massen und auch meinerseits beflügelt.

Ich schlage mir theatralisch die Hand vor die Stirn: „Offm Lindenring!“
Gröhl!

Schlusspointe von Ecke: „Gott sei Dank sinn de Ichel schonn im Windorschloaf.“ Lachtränensturzbäche….

14 Gedanken zu “Kastanien II

      • Eher beim Fuß- als beim Abi-Ball *g*
        Ich hab schon Erinnerungen an viele Dinge, an Menschen, Orte, Begegnungen, aber nicht so detailliert, dass ich jetzt irgendwelche Gespräche wiedergeben könnte. Ich weiß auch noch ungefähr auf welcher Baustelle meine Gummistiefel unrettbar in der Schlammkuhle stecken blieben und mit wem ich als Kind ellenlange Radtouren unternahm und wohin wir gefahren sind, auch an den Parkaufseher im Eichtalpark, der uns die Luft aus den Reifen ließ und die Luftpumpen „konfiszierte“ weil man im Park nicht radfahren durfte. Aber was der damals gesagt hat? Keine Ahnung, ich weiß nur was ich dem heute sagen würde..
        Meine frühesten Erinnerungen sind meine Oma, wie sie auf der Bank vor dem Haus Erbsen auspult und die Ohrfeige, die ich von meinem Onkel für den Fußball im Küchenfenster bekam. Mit Ansage.
        Womit wir wieder beim Fußball wären *g*

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      • Ach so! Nur ums Wörtliche gehts. Na, da würde ich nun (wie jeder Schreiberling) auch nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass es wirklich wörtlich so abgelaufen ist, wie ich es beschreibe. Die Pointen stimmen, der Ablauf selber kann schon anders gewesen sein.
        Ich hab aber beim Schreiben die Erfahrung gemacht, dass – wenn man einmal angefangen hat über Bruchstücke nachzudenken, sich der vergessene Rest von alleine wieder meldet.
        Strittmatter hat sich mal beklagt, nach seinem „Laden“-Erfolg, dass der überall gut ankam, nur zu Hause in seinem Herkunftsdorf nicht. Dort war jedes Ereignis anders in anderer Leute Kopf in Erinnerung. Der große Erwin hatte manche Kleinigkeiten auch „gesampled“ und einer Figur aufgeladen, obwohl es die Erlebnisse von 3en oder 4en gewesen sind. Na und? Die Richtung insgesamt stimmt „verdichtet“ trotzdem.
        Ich find auch Klassentreffen (meistens) interessant, wenn so alte Kapriolen ausgegraben werden, an die ich mich nicht erinnern kann oder die mir vollkommen anders in Erinnerung sind, als den Leuten – die sie da gerade erzählen.
        Erinnerungen führen ein Eigenleben, drehen sich, wandeln sich – manchmal sogar ins Gegenteil oder verkümmern.
        Eigentlich auch ein abendfüllendes Thema…

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  1. Der Scheißhausrocknroll! Ich lache immernoch Tränchen…
    Danke für diesen herrlichen Einblick, der natürlich och wieder Erinnerungskästchen aufspringen läßt. Anstacheln… Sehen Sie mich angemessen kwiekgiggeln.
    Beste Sonntagsgrüße, die Ihre.

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  2. Lieber Bludgeon,
    beim Lesen von Kastanien 2 ist in meinem Kopf etwas eingetreten, was ich beim Lesen sehr, sehr selten, bei Ihren Geschichten aber schon mehrmals hatte: Es entstanden Bilder in meinem Kopf, wie Photograhie oder Film. Normalerweise bleibe ich beim Lesen in einer sprachlich-mentalen Sphäre, auch bei Romanen, auch bei solchen, die mich fesseln, selbst wenn ich persönlich stark berührt bin, dann habe ich ein starkes emotionales Erleben, aber bildlos.
    Beim Schreiben fällt mir gerade ein, dass ich bei der auszugsweisen ersten Lektüre von „Frei geboren“, den ersten Besuch ihrer großen Liebe in ihrem Salon auch „gesehen“ habe. Vielleicht gibt es da eine Entsprechung in Ihrem Schreiben und dem des Herrn Spielhagen und vielleicht zieht Sie das so zu Ihm hin.
    Nach dem Lesen von Kastanien 2 konnte ich auch zum ersten Mal dem Satz „Es war ja auch nicht alles schlecht in der DDR“ etwas abgewinnen. Bisher ist mir dazu immer sofort die Hitlersche Autobahnbauerei eingefallen.
    Und jedesmal fällt mir auf, dass ich wirklich gar nichts weiß, über der Alltag in der DDR.
    Ich habe schon viele Jahre keinen Fernseher mehr und lese auch nur noch lausig wenig (z. Z. allerdings „Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters…Hammer!), es kann also sein, dass ich nicht auf dem Laufenden bin, aber ich habe den Eindruck, dass es bislang nicht viel gibt an DDR-Alltagsgeschichten.
    Den Ihrigen würde ich eine viel größere Verbreitung wünschen (das hatten wir schon). Veröffentlichen Sie sie als Buch, schreiben Sie ein Drehbuch, sie rufen nach Verfilmung.
    Ein Hoch auf Eckard!

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    • Seit den 1990er Jahren hat sich ein ganzes Heer von Historikern auf die Geschichte der DDR gestürzt. Die Veröffentlichungen sind mittlerweile Legion.
      Wenn ich (entsprechendes nteresse vorausgesetzt) einen guten Einblich empfehlen darf: Mary Fulbrook – Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR [WBG / Historische Bibliothek])

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      • Die Dame sagt mir dunkel was: war das nicht die, die es vor dem Mauerfall in den Osten verschlug und die ihre Erfahrungen mit Westsozialisierungshintergrund beschreibt?

        meine Tipps:

        filmisch: Sonnenallee + NVA von Brussig/Hausmann
        literarisch: Tellkamp „Der Turm“ (aber auf KEINEN FALL die Verfilmung!)

        und eine kleine wichtige Hinstorff-Verlagsheldentat der frühen 80er: Manfred Pieske „Der Schnauzer“! So war’se die Täterätätä.

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