Irische Impressionen

Seit die musikalische Schatzsuche an Reiz verliert, schwelt die Suche nach Alternativen. Reisen gilt ja allgemein hin als die Ersatzbefriedigung für entgangene Lebensqualität in der beruflichen Tretmühle. Andererseits: Was bleibt von den bezahlten Unsummen für eine Woche hie und da? Kann es etwas Langweiligeres geben, als die Fotoschau eines Pauschaltouristen?
Meine Generation hat da erkleckliches durchleiden müssen: Die Dia-Abende der Eltern und Verwandten!

Gerahmte Fotos a la Mutti auf den Stufen des Palastes von Rülpsowsk, Papa in den Ruinen von Pengputtsk, alle beide am goldenen Strand von Nepperowskoje usw. – kunterbunt für den Moment an die Wand geschmissen, gesehn und schon vergessen.

Und nun bleibt mir selber kein anderer Ausweg als zu reisen?
Wird mein Bericht interessanter für Betrachter, als das oben beschriebene Elend?

Ich probiers:

Wenn ich denn schon reisen muss, verknüpfe ich die Tour gern mit dem passenden Lesestoff. Nicht Reiseführerschwarten sind gemeint, sondern irgendwas, was eine Phantasieanregende Bindung an die zu erledigende Route hergibt.

Im Falle von Wien waren das Erika Pluhars Memoiren.
Anlässlich unserer Nordsee-AIDA-Tour ist es Schätzings „Schwarm“ gewesen.
Zu Schottland schien mir Hunas „Helgi“ zu passen, wegen der Wikinger, die nun mal auf der britischen Insel eine wichtige historische Rolle spielten.
So gelang immer irgendwie eine Übereinstimmung von Lesestoff und Umgebung.
Im Falle von Irland hatte ich nun ein Problem, denn etwas typisch Irisches wollte mir ums Verrecken nicht einfallen.

Auch bei der musikalischen Begleitung setzte ich nicht mehr auf Gallagher und U2, wie ich es vor 5 Jahren eventuell noch getan hätte, sondern ich entschied mich ganz un-irisch für Anne Clark, Joan Armatrading und Renaissance schönes 78er Opus „Song for all seasons“.

Literarisch fand ich dann die Notlösung, Bergers „Heiligen Nil“ mitzunehmen.

DSC02880-011blogbild-002blogbild Nach Irland?
Ja, weil die Nilufer fast komplett lange Jahre englische Kolonie gewesen sind; Irland zu der Zeit zum Kingdom gehörte; sich aber mehrheitlich fühlte, wie eine Kolonie. Außerdem konnte ich mich dunkel daran erinnern, dass in diesem Buch Kitcheners Sieg über den Mahdi nacherzählt wird. Deshalb ergibt sich zusätzlich der aktuelle Bezug zum IS-Unwesen heute.

Dr. Artur Berger, seines Zeichens heute vergessener Afrikaforscher und Großwildjäger, veröffentlichte 1924 ein edel in Leder und Pappe gebundenes Werk namens „Der heilige Nil“.
Wer hatte eigentlich im ersten Jahr nach der Inflation Geld für so eine Luxusauflage übrig?DSC02883-012blogbild
Mich hat es antiquarisch 1977 ganze 7.- M(Ost) gekostet. Die Bleistiftauspreisung steht immer noch drin.

„Wälder gibt es, oder besser: gab es zu beiden Seiten des Nil. Aber die Waldbestände nahmen ab. Reißend schnell. An Wiederaufforsten dachte niemand. Und merkwürdig, die sonst so (…) weitblickenden Engländer haben für Forstwirtschaft scheinbar kein Verständnis. (…) In den letzten Jahren haben ja wohl die Engländer versucht, von uns Deutschen in dieser Hinsicht etwas zu lernen, und englische Offiziere sprachen sich mir gegenüber dahin aus, dass wir ihnen im Forstwesen weit voraus sind, dass sie aber jetzt anfangen, die Fehler langer Jahre wieder gut zu machen.“ (S.40)

Diese Sätze krallten sich fest. Denn sie gelten nicht nur für die „überseeischen Besitzungen“ von einst. Auf den laaaaaaaangen Anfahrten in die schönen Ecken von Glenndalough, Moher, und Cork durchstreift der Reisende auf Gottes grünster Insel doch meilenweit recht karge Prärie, der die Büffel fehlen, und die in ihrem Unkraut, Gras und Schotter-Mix ans Berliner Umland oder ans dünn besiedelte Westpolen/Niederschlesien erinnert.

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Bäume sind in weiten Teilen selten und wenn vorhanden, dann vereinzelt stehengelassener Krüppelwuchs, der obendrein mancherorts als „Fairy-Tree“, als „Feen-Baum“ herhalten muss.

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Die Ruinen des Mittelalters ragen aus der Landschaft, wie hohle Zähne. Kein Weg führt zu ihnen. Kein Gide hält sie für erwähnenswert.

Aber dann erreicht man wiederum Landstriche, die an Thüringen erinnern, mittelalterlich verwunschen erscheinen, so als habe Heinrich I. hier einwenig Burgenbau probiert, um dann die schöneren Exemplare „an der Saale hellem Strande“ entstehen zu lassen.

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Den Anblick von Blarney Castle brachte mein historisch eher desinteressiertes Töchterlein (18) auf den Nenner: „Das is’ doch Prora hochkant.“

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Zum Vergleich hier der Koloss von Rügen:

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Die Seemacht rodete einst auf Teufel komm raus. Schiffe, Schiffe, Schiffe.
Cork erinnerte daran, als es 2005 zur Weltkulturhauptstadt wurde und sich diese gewöhnungsbedürftige Straßenbeleuchtung leistete.

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Als die Seefahrt stählern wurde, rettete das die Bäume keineswegs, denn Wolle, Wolle, Wolle schrie die „Spinning Jenny“ und die Einhegungen für die unvermeidlichen Schafweiden schablonierten die Landschaft weiterhin und der Regen spülte die Krume von den Hängen.

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Dann kam die Baumwolle und ansatzweise endlich erste Gedanken an Aufforstung um den I.Weltkrieg herum. Von Heiler Welt konnte trotzdem keine Rede sein, denn von Cork ausgehend erhoben sich die Iren 1916 zum letzten großen Aufstand, der sich hinzog, bis 1928 endlich England aufgab.

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Jeder Fremdenführer erzählt voll Stolz über den opferreichen Kampf und die englischen Gegenmaßnahmen, die den Begriff „versuchter Völkermord“ durchaus gerechtfertigt erscheinen lassen.
Hätten wir der Weltgeschichte nicht jenen Braunauer und Auschwitz beschert, wie stünden die Engländer heute da?

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Thin Lizzy und U2 begannen mit einzelnen Songs daran zu erinnern.
Latimers Band „Camel“ widmete dem dramatischen irischen Exodus der 20er Jahre 1996 ein hörenswert schönes Prog-Rock-Konzeptalbum – „Harbour of tears“.

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14 Gedanken zu “Irische Impressionen

  1. Ein Buchschatz ist was Sie da haben.
    Irland würde mich locken, so wie Schottland oder Wales auch. Mein Mann kann sich nicht vorstellen, dort Urlaub zu machen. Ihn verlangt es nach Süden. Das wiederum lehne ich ab, ich hasse Hitze.
    Darum fahren wir an die Ostsee. Gern im November, wenn die Urlauber fort bleiben und der Strand uns gehört. Manchmal gehe ich dann auch noch in’s Wasser. Zum Ausgleich für die fehlende Hitze begleite ich meinen Mann brav nach Prora und höre mir still alle Armeegeschichten in Endlosschleife an.

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  2. Mein Beileid. Aber wie sie lesen, sind sie nicht allein. Prora ist auch in unserer Family Nervtöter-Thema Nr. 1 – keiner will’s hören. Und Synonym für alle möglichen Negativ-Vergleiche. Ich kastei mich ja schon.
    „Papa erzählt vom Kriech…“ (und Augen verleiern) – Jaja.

    Falls Sie ihren Ehegespons doch noch zu einem Nordlandurlaub rumkriegen sollten, folgender Tipp: Andersrum reisen als ich: Erst Irland, dann Schottland; weil das die logische Steigerung ergibt. Nach Schottland Irland kennenzulernen ist zwar nicht schlecht – aber irgendwie eben „nur“ ne Zugabe.

    An der Ostsee in allen möglichen Nicht-Saisonen sind wir auch relativ oft. Von hier aus Restpreußen ist es ja nicht allzuweit, da sind Tagestouren schon machbar. Vor ein paar Jahren sind wir nahezu „Darß-Fans“ geworden, denn Rügen ist auf dem Weg zum 2.Sylt und Rostock-Warnemünde – nee, wenn ich totgetrampelt werden will, warte ich hier lieber auf die nächste Runde „Linke gegen Rechte“, da muss ich nicht so weit fahren.

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    • Jau. Der Böll wär’s gewesen. Eine Woche nach Rückkehr sah ich irgendwo im TV eine Hommage an Böll, wo seine Beziehungen zu Irland als Fluchtpunkt vor deutscher 50er Jahre Spießigkeit ausführlich beleuchtet wurden. Schade. Zu spät erfahren.

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      • Der Böll wäre wohl eine Reise in die Vergangenheit geworden . In die irische und ins Nachkriegsdeutschland.
        Ich habe das „Irische Tagebuch“ mit 14 gelesen, Mitte der Siebziger. Es war meine erste Erfahrung mit Erwachsenenliteratur, eine Empfehlung meiner Deutschlehrerin, Isolde Sprenger, in der 7. Klasse. (Ihr an dieser Stelle ein ehrendes Gedenken, sie hat mir mit der Literatur die Welt eröffnet.) Bis dahin endete mein literarischer Horizont bei „Hanni und Nanni“ und „Schneiderbüchern“ mit Titeln wie „Constanze schwärmt für himmelblau“ und „Helga findet ihren Weg“ (Sie wollte Schauspielerin werden, hat dann aber beim Babysitten eingesehen, dass heiraten und eigene Kinder der bessere Weg sind.)
        Entsprechend die Wirkung des „Irischen Tagebuches“. Ich wurde vom ersten Kapitel weg Böll- Verehrerin und habe umgehend nahezu alles gelesen, was bis dahin erschienen war. Und dann weiter bis „Katharina Blum“.
        Vierzig Jahre nach der ersten Lektüre ist mir das „Irische Tagebuch“ wieder in die Hände gefallen.
        Ich habe mich voll Wiedersehensfreude hineingestürzt. Und es traurig wieder weg gelegt. Ich fand´s nur noch – bieder. Katholisch im Stil der Fünfziger. Das macht es dann allerdings wieder interessant.
        Als Zeitzeugnis für die Enge der Fünfziger, wie sie auch im Denken der Querdenker Grenzen markiert hat, im Grund bis in die Siebziger hinein. Und man versteht wieder einmal, warum 68ff kommen MUSSTE.

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      • Ich habe noch einen gefunden, der das viel besser ausgedrückt hat:
        Marcel Reich-Ranicki: „Auch wenn Bölls Bücher höchst zwiespältige und fragwürdige Produkte waren […], so bewiesen sie doch einen einzigartigen Blick, ein schlechthin phänomenales Gespür für jene Motive, Situationen und Stimmungen, in denen ‚das Aktuelle‘ wie von selbst zum Vorschein kommt und anschaulich wird. Was Böll erzählt, mag besser oder schlechter sein. Aber es traf und trifft die deutsche Gegenwart mitten ins Herz. Das gilt auch für die Geschichte von der ‚Verlorenen Ehre der Katharina Blum‘.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. August 1974)
        Und zu „Katharina Blum“ fällt mir noch ein, dass ich bezweifle, dass in den letzten Zwanzig Jahren ein irgendwie relevantes Buch erschienen ist, das das Wort „Ehre“ im Titel trägt. „Ehre“, Wort wie Inhalt, stehen auf der Liste der vom Aussterben Bedrohten. Aber das ist eine andere Geschichte.

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      • 3 auf einen Streich. 3 grandiose Kommentare. Wir liegen da auf einer Welle. Von Böll hab ich einiges – nicht alles gelesen. Wie es ihnen mit dem Tagebuch erging, so ähnlich ging es mir mit den Ansichten eines Clowns. Die Katharina Blum kenne ich nur verfilmt und find den Film ja auch schon genial. Und Bücher sind ja meistens besser.

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  3. Das war wieder höchst unterhaltsam, dein Beitrag im Plauderton (bekanntermaßen mit das Schwierigste, leicht und locker und doch spannend und anspruchsvoll zu erzählen).Und was nicht wieder aus dem Erinnerungsbergwerk geholt wurde!: diese Dia-Abende-meine Verwandtschaft war und ist immer noch groß-Thin Lizzy, das Album von Camel, mir (noch) unbekannt. Und auch noch der Heinrich, der erste.
    Vielen Dank für den gelungenen Beitrag.
    Beste Grüße
    HerbertSteib

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  4. Ich zitiere mal: „Wenn ich denn schon reisen muss, verknüpfe ich die Tour gern mit dem passenden Lesestoff. Nicht Reiseführerschwarten sind gemeint, sondern irgendwas, was eine Phantasieanregende Bindung an die zu erledigende Route hergibt.“

    Nun denn, ich dass Reisen kein „muss“ sind, sondern eine höchst vergnügliche Angelegenheit ist (sofern man nicht ins Hard-Rock Cafe“ geht), ansonsten teile ich diesen Wunsch nach entsprechenden „Lesestoff“ …

    Da kommt mir gerade in denn Sinn, dass ich ja zukünftig meine Reisen etwas früher ankündigen könnte und um entsprechende Literaturtipps bitten könnte … blogger „unserer“ Art tauschen sich da ja gerne aus (finde ich übrigens einfach nur super !)

    Bei meiner Portugalreise hatte ich ja den „Nachtzug nach Lissabon“ noch im Kopf, aber eigentlich hätte ich mich vorher noch ein wenig mehr informieren können …

    Dieses „Irische Tagebuch“ ala Bludgeon habne ich auch deshalb mit so großem Interesse gelesen, da meine erste Auslandsreise als „autonomer“ junger Mann mich eben nach England und Irland geführt hat. In London habe ich dann im Marquee Club, London Roger Chapman und die Streetwalkers gesehen (es war ihr Debütkonzert) und in Irland war´s einfach nur herrlich !

    Heute lese ich immer wieder mal gerne die humoristischen Kriminalromane von Ian Sansom, die er als „Romane aus der irischen Provinz“ untertitelt. Diese Romane spielen zwar in Nordirland … aber ich bilde mir ein, dass da zwischen den beiden „Irlands“ mentalitätsmässig kaum Unterschiede sind.

    Ansonsten versuche ich dann auch immer, die Musik des jeweiligen Landes zu erkunden (ich kann halt nicht anders) … aber was den Irish Folk betrifft, ist ja bei dem Herrn Bludgeon ja leider Hopf und Malz verloren *zwinker*.

    Und dann fand ich noch den „Leserbrief“ von Arabella hinsichtlich der unterschiedlichen Urlaubsvorstellungen/wünsche sehr spannend … ist ja alles gar nicht so einfach,

    Desweiteren teile ich die Erinnerungsassoziationen von Herrn Herbert Steib, insbesondere hinsichtlich Dia-Abende …. und Thin Lizzy müsste ich jetzt unbedingt auch wieder hören: Live And Dangerous … ein Klassiker … genug für heute !

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  5. Tot oder so was?
    Denkblockade?
    Blogüberdruss?
    Schreibhemmung?
    Fingergelenkstarre?
    „Krieg und Frieden“ in Angriff genommen?
    Oder gar ein echtes Leben neben dem virtuellen?

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