4 Pferde gehen fort

(Fortsetzung von „Auf Praxis“ und „Oldtimer II“)

Sonnabends letzte Stunde wurde vorgelesen. In der 1. Klasse. Zweite Klasse auch? Teilweise. Nicht mehr so regelmäßig. Das war prima, denn man musste gar nichts tun. Nur ruhig sein. Man konnte sich bereits ins Wochenende und die bevorstehenden Spiele träumen oder natürlich auch zuhören: Frau O.s Bilderbücher waren bereits die ersten Literaturtipps, die es in sich hatten – so sehr, dass ich mir zu Hause dann das eine oder andere Buch selber wünschte.

Eines davon hieß „4 Pferde gehen fort“. Es stammte von Gerhard Holtz-Baumert, der mit „Alfons Zitterbacke“ sowieso DEN literarischen Oberbestseller der 60er Jahre für die Altersgruppe 7-10 verbockt hatte – sozusagen „Gregs Tagebuch“ (GDR-Version).
Selber lesen konnten wir noch gar nicht, aber die Litera-Schallplatte schon komplett aufsagen!

Vaters Beziehung zu Pferden ist eine besondere. Für ihn sind sie die wichtigsten Tiere überhaupt. Er ließ nichts unversucht, seine Söhne ebenfalls zu Pferdeliebhabern zu machen, außer: eins zu kaufen. Ein richtiger Tierarzt würde in so einem Fall alles richtig machen wollen, auch was die regelmäßige Bewegung des Tieres betraf und das erwies sich als zu kostspielig und zeitlich organisatorisch nicht machbar. Einen teuren „unnützen Fresser“ in irgendeinem Mietsstall weit draußen irgendwo zu bezahlen – das verbot sich. Für die wieder empor gekommene, sparsame Vertriebenengeneration sowieso. Tierlieb wurden beide Söhne, Pferdekenner nicht.

Echte Pferde sah ich also nur auf Zelluloid, wenn Gojko unterwegs war – oder „auf Praxis“.
Kranke Pferde gabs aber fast nicht. Mal ein entzündeter Huf, mal eine Flasche Hefe-Mix gegen Kolik; das war’s eigentlich. Bei Geburten wurde Vater ab und an zur Sicherheit angefordert, das nahmen die Bauern meist sehr ernst. Auch bei ihnen spielten die Pferde auf dem Hof die erste Geige. Auch nach der Enteignung. Sie hatten ihre Tiere und ihre Ställe auf dem Papier zum Staatseigentum erklärt, aber im Prinzip ja beides behalten. Jedes neue Fohlen wurde präsentiert, wenn der Dukter mal gerade wegen der Ferkel da war… und dor Gleene mit von der Partie…
Im Auto auf der Heimfahrt kommentierte dann Vater das Gesehene: „Das ist noch ein richtcher Bauer. Haste die saubere Schüttung bemerkt? Und das Fell der Mutter? Gestriegelt!“
Oder aber die kritischere Variante: „Hoffmer mal, dass er des Fohlen balde verkooft, damits aus dem verdreckten Schuppen raus kommt. Solchen Krippensetzern solltemer die Tierhaltung generell verbieten. Wemmer Bubi hätte in son finstres Loch gesperrt – der hättes zerlecht! Habbich schon erzählt, dass Bubi keene geschlossne Stalltür ertrug? („Ja, Vati, soll ich mitsprechen?“, dachte ich im Stillen und freute mich gleichzeitig auf die Wiederholung.) Als der bei uns neu war, sperrte den der Fleischerbursche ein und rumms-rumms-rumms- drosch der die Hinterhufe solange vor die Düre, bis das Kastenschloss kapitulierte. Das blieb im Türrahmen hängen, die Türe flog auf und Bubi trabte schnaubend durch den Hof. Kopf hoch! Ohren aufgestellt, Schwanz hoch! Ein Bild für Götter! Der war wie Rih. Der war mein Rih. Rih war ja eigentlich’n Araber. Bubi nich’, aber ich hatte ja ooch keen Bart wie Kara Ben Nemsi.“

Frau O. las nun auch eine Pferdegeschichte, die aber anders verlief, als die meines Vaters. Die 4 Pferde, die da fort gingen, also durchbrannten, erzeugten in mir mit ihrem glücklich verlaufendem Abenteuer Hoffnung zur Bewältigung eines Schlüsselerlebnis, das ich just zu dieser Zeit ebenfalls mit Vater auf Praxis erlebte.

Plötzlich gab es nur noch „Pferdefälle“. Ich stieg aus den bekannten Gründen immer seltener mit aus, fragte aber manchmal: „Und was is’ hier jetz’?“ „Pferde-Proben.“, knurrte Vater untypisch einsilbig. Auch die Bubi-Rih Geschichten gab es auf diesen Fahrten nicht zu hören.
Eines Tages hielten wir wieder beim Frosch. Ich stieg mit aus. Und auch hier ging’s stracks zum Pferdestall.
Der Frosch schweigsam. Vater kurz-angebunden, grob. Das war HIER nicht normal.
„Festhalten. Steh!“ die Kanüle trifft den Hals, das Hinterbein kommt prompt, Vater springt zur Seite und tritt mit dem Gummistiefelbewerten Fuss zurück: „Mistvieh!“
Das Blut füllt das Reagenzglas, die Kanüle wird gezogen, der Einstich weggerieben. Fertig.
„In 2 Tagen haste den Befund.“
„Machs juht, Dukter.“
Heute keine Wohnküche. Kein Kaffee. Keine Tüte Eier zum Mitnehmen.

Draußen im Auto startet Vater nicht. Er starrt aufs Lenkrad. Dann rammt er beide Hände dagegen und presst zwischen den Zähnen hervor:

„Versprich mir eehns! Werde NIE Tierarzt!“
„Ja. Warum?“
„Weil de dann vielleicht ooch bei so’ner Scheiße mitmachen musst, ´wie ich grade.“

„Wohin gehen denn die ganzen Blutproben?“
„Nich die Proben – die Pferde gehen fort. Für immer.“
„Wieso?“
„Der Spitzbart hat sie an die Holländer verhökert. Diese Proletenrepublik rottet ihren eigenen Pferdebestand aus!“ und bevor ich was sagen kann, kommt natürlich noch der Spruch. „Aber! Das erzählste nich in der Schule, klar!“
„Klar. Und was machen die Holländer mit den ganzen Pferden?“
Schweigen. Dann kommt doch noch ein Wort: „Hundefutter.“
Der Zündschlüssel stößt ins Schloss, als gelte es den F 9 abzustechen.
Der Motor heult auf und Vater singt: „Es donnern die Motoren! Vom letzten Pan!zer!re!gi!ment!… Er ist im „Gelobt sei, was hart macht Modus“. Besser keine Fragen mehr.
Der kleine Dakota brütet schweigend neben dem Foxterrier, den er sich irgendwie trotzdem nicht als bösen Pferdevertilger vorstellen kann. Der kriegt doch Freibank-Fleisch.

In Frau O.s Geschichte erfahre ich, dass die Pferde überflüssig geworden sind. Der Traktoren und Mähdrescher wegen. Sie sollen verkauft werden, eventuell auf den Schlachthof… sie brechen aus. Die Dorf-Kinder helfen und verstecken sie … die Bauern werden mitleidig. Die Pferde schulen um – zum Zirkuspferd, zum Reitpferd im Ferienlager, bzw. ziehen sie den „Schulbus“, eine Sammelkutsche. Von Holland-Export ist nicht die Rede.
Ein optimistisch stimmender Schluss. Leider nicht die Wahrheit.
Ich bekam das Buch.
Es half verdrängen.
Vater mehr als mir.

Er überließ mir neulich seine aufgeschriebenen Erinnerungen. Darinnen fanden sich 2 Schreibmaschinenzeilen:

„Ich übernahm 1961 den pferdereichsten Praxisbereich im Kreis mit 420 spannfähigen Tieren. Ich übergab ihn 1981 an meinen Nachfolger mit etwas über 20 Pferden.“

Zwei Zeilen – die es in sich haben, wenn man zwischen ihnen zu lesen versteht.

7 Gedanken zu “4 Pferde gehen fort

  1. Geht unter die Haut.
    Unterm Strich ist der Unterschied gering – bei euch veränderte die Partei die Landwirtschaft grundlegend, bei uns warens die Agroindustrien und die lobbystarken Grossbauern und ihre Handlanger in Brüssel.
    Ich bin im alten Ortskern geboren und habe noch traditionelle landwirtschaftliche Betriebe kennengelernt. Und die Transformation der Bauern in Arbeiter in den Industrien rundum. Die waren teilweise noch „Teilzeitbauern.“ Mit der Flurbereinigung (wasn Begriff das wieder) blieben einige Bauern übrig mit ihren neuen Höfen ausserhalb des Ortes. Aussiedlerhöfe nannte man diese Wohn- und Arbeitshöfe.
    Zum Kotzen!

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  2. Bei uns gibts noch einen, der sich Pferde hält, die Fohlen verkauft er, arbeiten müssen sie schon lang nicht mehr, er hält sie als „Hobby“ sozusagen, die Waldarbeit wird lang schon von schweren Maschinen erledigt, die die Bäume abrasieren und auf einen Wagen schmeissen. Um uns herum sind „traditionelle“ Bauern, heute haben wieder mal alle die Jauche ausgefahren, ein paar hunderttausend Liter, es stinkt so widerlich, daß es mich würgt, wenn ich das Haus verlasse. Die Luftverschmutzung und die Versalzung des Bodens – egal anscheinend. So riecht es halt am Land – was für Blödsinn, so riecht es, weil die Kühe das ganze Jahr über im Stall stehen müssen, weil die Bauern halt einfach die ganze Arbeit nicht mehr schaffen , wenn sie auch noch die Kühe austreiben müssten…alle gehen in die Arbeit und halten sich den Hof, so rationell wie möglich vom Hals, Bauer sein ist kein anerkannter Beruf mehr…ach ja, und die Flurbereinigung…alle Büsche wurden abrasiert und daheim, vorm Haus wird künstlich ein „Wildgärtlein“ angelegt, die Blumen kommen aus dem Gartencenter und werden bis zum Platzen gedüngt um alles um die neugebauten Häuser zu verhübschen…ach ja, und ich hab unseren kleinen Hof geerbt, ein Sacherl, und wir hocken da mittendrin…ach es ist irgendwie trostlos manchmal, wenn nicht der Himmel so hoch und weit wäre, dann würd ich manchmal lieber in der Stadt wohnen…eigentlich wollt ich Dir ja nicht vorjammern, sondern sagen, daß Du starke Texte schreibst, die ich gerne lese! Liebe Grüsse

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    • (Ich hab mal die andere Mail gelöscht und die „Fehlerchen“ bereinigt.) Danke für die Antwort, oder sollte ich lieber sagen Eruption? Ja,wir stimmen darin überein, dass der Fortschritt oft auch zur Qual werden kann. In der Stadt wärest du eventuell den Gestank los und dafür hättest du unleidliche Nachbarn oder dauernd wechselnde oder die Mietpreisexplusion… „ob im Osten, oder Westen, wo man ist, ists nicht am besten“ (Pannach+Kunert)

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  3. Macht und Ohnmacht.
    Immer gleich. Immer gleich furchtbar.
    Bauern, die ihre Tiere nicht schützen können.
    Eltern, die ihren Kindern den Abtransport erklären müssen.
    Scheiße.

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  4. Unterdiehautgehtext, Verehrtester! Den Knobloch’sippschen Pferden blieb das Hollandschicksal erspart, die wurden bereits im Krieg von den Russen…naja, ich will hier nichts ungehöriges schreiben. Der Waldbauer hat irgendwie seine Kaltblüter behalten, vor denen hatten wir Kinder Angst.

    Später entstand eine richtige Pferdegenossenschaft, keine Ahnung, wieso und warum, aber gefördert und staatlich unterstützt. Die Nachfolgereitschüler haben noch heute Klang und Namen unter der Reitergesellschaft, mein Interesse war es dennoch nie. Mannmann, Sie lösen ja wiedermal Erinnerungslawinchenaus… Pferde, achwas, das Knoblochgör will bloß Trecker fahren…

    Grüße in den Sonnensamstag, herzlichst, die Ihre.

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  5. Pingback: 15 Alben – 5 Verisse | toka-ihto-tales

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