Karl May II

Winnetous Tod – oder: Eine Sucht von gestern

Heute verstarb Pierre Brice.

Auch wenn mir Gojko Mitic der allzeit wichtigere ist, holt die Nachricht allerhand herauf aus alter Zeit:

Steh ich heute in Antiquariaten herum, stoßen meine Füße manchmal an Kartons unter den Regalen: darin mehr oder weniger gut erhalten – Karl May Bücher. Sie in die Angebotsregale zu stellen, lohnt nicht mehr. Die Nachfrage ist tot. Der Anblick schmerzt. Ich kenne noch andere Zeiten. Karl May war mal gesucht wie Goldstaub. Damals. In der DDR. Vor 1983.

Auch mich hätte es treffen können, ein Karl May Verächter zu werden.

Zwar kannte ich die Hauptfiguren alle lange bevor ich lesen konnte. Vater, wenn er gute Laune hatte, konnte von diesen Helden schwärmen, dass es einfach mitreißen musste!
In solchen Momenten kam in seine Augen die eigene Kindheit wieder hoch! Nur leider besaß er keins der Bücher mehr. Sie waren „zu Hause geblieben, als wir wegmussten!“, so der familiäre Sprachgebrauch für die erlittene Vertreibung 1945.

Mitfühlende Verwandtschaft hatte sich später mal aufgerafft und in 3 Paketen die 3 Winnetou-Bände in die Täterätätä geschickt, wohl wissend, dass nach § XY/b der sozialistischen Willkürverordnung nicht gestattet war, westlichen Druckerzeugnissen eine postalische Einreise zu genehmigen. Es kam, wie’s kommen musste: Band 1 und 2 fielen dann vermutlich in die Hände irgendwelcher Zöllnerkinder. Nur Band 3 kam durch!
Und ein wunderschön gemaltes Indianer-Quartett aus Bamberg. (Keine Film-Fotos!)

Das geschah zu der Zeit, als ich bereits „Dakota war“. Aber gleich nach den „Söhnen der großen Bärin“ irgendeine Art von Indianerbuch lesen zu wollen, musste schief gehen. „Winnetou 3“ erwies sich als zu schwach, um mithalten zu können.
Es vergingen ein paar Jahre mit Indianerspielen.
Zwar hießen auch zwei Figuren dauerhaft Winnetou und Old Shatterhand, aber mit dem Lesestoff haperte es eben.

Dann wurden wir 8.Klässler und sollten uns kurz vor der Aufnahme in die FDJ noch einmal an einer Pionier-Altstoffsammlung für eine Soli-Spende der Schule beteiligen. Wie immer gingen wir also Straßenweise aufgeteilt die Leute abklingeln, ob sie nicht ein paar Gläser oder Zeitungen hätten. Der große Trecker-Hänger vor der Schule wartete darauf gefüllt zu werden.
Oft lagen die alten Zeitungen in den Kellern der Leute bereits gebündelt herum. Die warteten einfach auf die Pioniere. Ebenfalls oft waren in diesen Stapeln „Schätze“ mit eingeknotet worden: Alte Hefte des „Magazins“ zum Beispiel! In jedem davon EINE Aktfotografie! Hey! Wir waren 14! Und männlich.
Oder MOSAIK-Hefte! Der WAHRE Schatz! Möglichst der älteren Art unterhalb der Nummer 90! Herausziehen aus dem Stapel und Interessenten weiterverkaufen, war selbstverständlich. Sowas landete nie auf dem Hänger! Diesmal aber hatte einer aus der Parallelklasse ein anderes großes Los im Stapel: „Hier habch boar alde Biechor!“, hatte die Oma gesagt, die ihm zwei Stapel in die Hände drückte. Eine Zusammenstellung des Schreckens aus „Buchprämien“ der Jahrzehnte. Granin, Tschechow, Seghers, Gotsche… Zwischen drin: „Durch das Land der Skipetaren“ und „Der Schut“!

Otmar war ein besonders gerissener Hund: Er nahm die beiden Karl Mays an sich, informierte uns 3 Leseratten von so altem Zeugs und ließ uns steigern. Er begann bei 20 Mark Gesamtpreis und erwartete unsere Gebote. Zwei Tage zog sich das hin. Der Preis stieg fünfzigerweise. Schließlich bekam ich den Zuschlag für 35 Mark (sponsored by Vati) und die Family hatte somit nun abgesehen von jenem „Winnetou 3“ Karl May Zuwachs.
Zunächst war Papa begeisterter als ich. Jedoch gelang auch in meinem Fall der Leseversuch diesmal besser als vor Jahren. Die Bekanntschaft mit dem Orient-May war für mich der Urknall. Geborgter Maßen war es mir kurze Zeit später möglich „Durch die Wüste“ und „In den Schluchten des Balkan“ lesen zu können. Dann ruhte der See wiederum für Jahre.

1982 ging mir per Zufall „Benito Juarez“ ins Netz. Tolle Spannung! Aber es fängt irgendwo mittendrin an und hört abrupt auf. Wie mag das weiter gehen?
Weihnachten 82 krönte Hermann Kant sein Lebenswerk mit der Wiederzugänglichmachung des ach so verfemten Schundliteraten.
Kant hatte in seinem Debut-Roman „Die Aula“ 1965 entgegen der DDR-Doktrin eine warmherzige Danksagung an den „braven Lügenbold“ untergebracht, Karriere gemacht und diplomatisch die Zeit abgewartet.
Nun war sie reif: Pierre Brice und Lex Barker wurden die Helden des Feiertagsprogramms Ost und die Vorankündigung …dass man sich im Rate der Kalkriesen zu Wandlitz entschlossen habe, pro Jahr einen Band der beliebten Gesammelten Werke veröffentlichen zu lassen, sorgte für zusätzliche Verblüffung. Mit „Winnetou I“ sollte begonnen werden. Die Werke seien „überarbeitet“ und von „Weitschweifigkeiten“ befreit. Es gehörte kein großer Scharfsinn dazu, zu ahnen, dass damit vor allem die Bekehrungsdialoge zwischen Shatterhand und Winnetou gemeint sein mussten.
Trotzdem bekam ein Sammler in der Altstadt kalte Füße und er inserierte, dass er eine Sammlung der Romane Mays verkaufen will.

Studenten haben meistens Zeit und so ging ich also hin, um mein Glück zu versuchen: Verkauft der nur „geschlossen“ oder jeden Band einzeln?
Zum anberaumten Termin drängelten sich ca 60 Leute im Hausflur und wurden in 3er Grüppchen in die Wohnung gelassen.
Meine Hoffnungen schwanden: Mist. Zu spät. Hier ist nichts zu holen.
Da öffnete sich die Tür und ein enttäuschter Rentner kehrte in den Flur zurück und machte sich Luft: „Der spinnddoch da drinne! Fuffzsch Morg bro Buch! Und wennse gabudd sin’ wille noch vörzsch!“ – und ging.
Mit einem Stöhnerchen halbierte sich die Meute. Nun waren wir noch 30.
Wieder kamen welche aus der Wohnung: „Winnedu is schon weg. Ich hawwe noch „undor Gejorn“ und’n „Ölbrins“ erwischt.“ Wieder gingen einige mit.

Meine Hoffnungen stiegen: Dank Papa-Sponsoring hatte ich reichlich Munition im Portemonnaie und an den abgelatschten Reißern war ich eh nicht so interessiert:

Der Tag ging in die Familiengeschichte ein: 8 Bände Beute! Zwei davon die Nachfolgebände des „Benito Juarez“. Ich flog praktisch nach Hause! Vater sah das Ergebnis, zückte die Brieftasche und schickte mich ein zweites Mal hin: Vielleicht ist noch was übrig.
Zweiter Anlauf und noch mal 6 Schwarten, zerlesen, teilweise auseinander fallend, aber egal!
Vier davon die Greifenklau-Bände.
Ich konnte, da ich „letzter Kunde“ war sogar den Preis deutlich drücken.

Außerdem erschien um Ostern 83 nun offiziell „Winnetou 1“ sowie eine gut geschriebene May Biografie „Der Mann der Old Shatterhand war“.
Auch die Zollbestimmungen schienen sich geändert zu haben: Karl May Taschenbücher flatterten herein, dass es sich nur so hatte: Pawlak-Verlag, Tosa-Verlag, Ueberreuther… oder aber klassisch grün aus Bamberg.
Sie stehen heute noch repräsentativ in meinem Bücherschrank.
Zweireihig, oberstes Regal, statt Goethe oder Shakespeare.
Leider aber hat die Stafettenübergabe in die nächste Generation nicht geklappt.
Nach mir, werden wohl auch meine Bände in einer Antiquariatskiste enden…

Heute starb Winnetou. Das Gesicht, das ich in der Rudi Carrell Show kennen lernte.

11 Gedanken zu “Karl May II

  1. Vielen Dank für diese sehr persönlichen und deshalb für mich so wertvolle Zeilen. Leider fehlt mir die Gabe, jene für mich so wichtigen Jahre meiner Kindheit, in denen Winnetour und Old Shatterhand eine zentrale Rolle spielten, zu skizzieren. Aber intensiv ist meine Erinnerung an diese Zeit natürlich schon, besonders heute.

    Gefällt 1 Person

    • Kant als Insider der Macht wusste, dass May nicht wirklich wegen chauvinistischer Verführung der Jugend zu Herrenmenschendenken in der DDR nicht verlegt worden war, sondern wegen des Rechtsstreites zwischen den „abgehauenen“ May-Erben in Bamberg und dem zu enteignenden Verlag in Radebeul, außerdem ging es um die Villa (die Schul-Hort wurde) und den Hausrat usw. Eigentlich ganz so wie mit Audi Ingolstadt gegen DKW Zwickau.
      Die inhaltlichen Vorwürfe waren nur die Bemäntelung für verlorene Prozesse gegen Bamberg.

      Um 1980 waren die Russen per Revision dermaßen in eine Wirtschafts- und damit auch Erdöl-Lieferkrise gerutscht, dass Honecker einerseits den Kohlebergbau fördern musste und andererseits der Meinung war, nun auch gegen den Willen Moskaus ein bißchen „was eignes“ aufziehen zu können: Friedenspolitik. Vermehrter Westhandel. Ausbau des technologischen Fortschritts gegenüber Moskau…

      Gleichzeitig setzte aber auch dieser SWING-Teebs ein, dass die DDR am Rande des Bankrotts weiter Geschäfte mit Bonn machen wollte. Strauss winkte mit Kredit, aber gespart werden musste auch irgendwie.
      Video- und CD-Know how einzuführen, wäre zu kostspielig geworden, wenn es für alle vorhanden sein sollte. An die neuen Technologien trauten sich die alten Herren nicht mehr ran und erklärten sie für unnütz.

      Da brachte Schriftstellerverbands-Chef Kant den May ins Spiel:
      Aber mit Karl May ließe sich doch punkten! Den mochten doch so viele! Seine Bücher erforderten keine Technik, um sie zu lesen. Die Filme waren alt und nun billig zu haben.
      Und den konnte man doch genauso „drehen“ wie zuvor den Luther und den Alten Fritz – von pfui auf hui! Da stünde dann Erich der Einzige mit seiner Friedenspolitik automatisch in der Tradition der pazifistischen Suttner-Kongresse, auf deren letztem der alte May ja auch eine Rede gehalten hatte!

      Gefällt 1 Person

      • Revidieren/Überprüfen der Erfolgsbilanzen des letzten Jahrzehnts: Superplanübererfüllung bei gleichzeitigiger Verschlechterung des Warenangebots konnte nicht sein, merkte zumindest der Geheimdienst, schickte unangekündigte Kontrolleure los und schockte hinterher das ZK mit dem Pleite-Bericht. Ganze Fabriken waren geplant, bezahlt, aber nie gebaut worden. Hinter den Ural hatte sich nie ein Moskauer Bonze verlaufen – da zauberten schon einige Funktionäre am Startkapital fürs spätere Oligarchentum.

        Like

  2. Ihr Blog ist für mich eine Art Bildband einer historischen Landschaft, deren „topographische“ Fakten mir zwar mehr oder weniger bekannt sind, die durch Ihre Geschichten aber erst anschaulich wird.

    Gefällt 2 Personen

    • Wow. Dankedankedanke.

      Vor allem, dass dieses Lob ausgerechnet unter DIESEM Post steht, bei dem ich mir mit am unsichersten war (abgesehen vom Traumschwimmer): Veröffentlichen/verkneifen/veröffentlichen/verkneifen… aber nu: 4 likes und DIESES Kompliment von Ihnen – Uff! Alles bestens. Danke.

      Gefällt 1 Person

  3. Pingback: Abu Alkalam | toka-ihto-tales

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s