Unterstufenkrieg

(Alle Namen frei erfunden)

In den ersten 5 Schuljahren waren wir über 30 Schüler in der Klasse.
In den ersten 2 Jahren hatten wir eine schon recht alte Klassenlehrerin.
Sie war die richtige Mischung zwischen Oma und Tante, schimpfte selten und niemals durch lange Tiraden. Zum Geburtstag und zum Lehrertag bog sich der Lehrertisch unter den Geschenken der Elternhäuser. Sie war beliebt.
Und sie war clever. 34 Knirpse in einem sehr kleinen Klassenraum mit kaiserzeitlichen Klappsitzbänken mit Tintenfasslöchern bedeuten – Enge.
Enge bedeutet Streit.
Streits erfordern Munition. Diese besteht aus Schimpfwörtern.
Und die sollten treffen!
Später, wenn das Pubertätsloch droht, werden sie oft sexueller Natur.
In den frühen Jahren jedoch sind sie zunächst zwar ordinär, aber auch originell.
Scheißkerl, Kuhfladen, usw. Aber irgendwann wird’s phantasievoller. Am Einfallsreichsten sind wiederum die Sitzenbleiber. Die sind älter und können mit sonst nichts glänzen.

Einer von denen war Dietmar, genannt „die Impfe“. Das erste, was wir über ihn erfuhren, war, dass er mal ne tote Katze angefasst hatte und deshalb gegen Tollwut geimpft worden war.
Die Impfe war mit Popel aneinander geraten. Der hieß eigentlich Popwitz. Sie hatten reichlich klassische Komplimente a la Arschloch, Rotzer usw. ausgetauscht, als die wütende Impfe in die Klasse schrie: „Wenn ich dich seh, seh ich mein’Arsch Kaffe trinken!“ …und das Massengelächter brach los. Popel inbegriffen! Dessen Wutanteil war wie weggeblasen und Impfe beruhigte sich verblüfft über diesen Erfolg ganz automatisch.
„Popel, der Kaffeearsch!“ (von unbekannt gerufen) erntete noch etwas Bonusgelächter, dann stand Frau O. in der Tür und sprach: „Bernd! Redest du mit deinen Eltern auch so?“
Schon trat Ruhe ein. „Komisch. Ich dachte, wenn man einen Arzt zum Vater hat, wüsste man, was Anstand ist.“ Das war auf Gernot gemünzt, der immer noch schadenfroh grinste und sofort die Mundwinkel wieder sinken ließ.
Wir hatten damals noch keine Syndrome, auf die wir uns herausreden konnten. Wir mussten solche Lehreraussagen noch sofort verstehen. Und Ruhe war.

Aber die Olympiade zum Thema: „Finde das treffendste Schimpfwort!“ war eröffnet und es gewann für eine gewisse Zeit: Heimkind. In allen erdenklichen Variationen: Du Heimkind! Der is’ ausm Heim, der kann nüscht dafür! Ab ins Heim! Ey, du bist doch ausm Heim! Hei-mi! Hei-mi! Geh ins Heim und halt die Schnauze!“…

Die Lehrer bekamen es nicht sofort mit, merkten sodann nicht die Ausmaße der Variationen aber schließlich sah Frau O., das hier Handlungsbedarf bestand: Das musste aufhören!
Zwar war in der Klasse kein einziges wirkliches Heimkind, aber zum Einzugsbereich der Schule gehörten gleich drei derartige Einrichtungen: Ein staatliches, ein kirchliches und das dritte war eigentlich kein richtiges, denn die Insassen hatten Eltern. Es handelte sich dabei um das so genannte Leuna-Heim. Ein Sozialversuch der DDR zur vorübergehenden Unterbringung von Schichtarbeiterkindern über die Woche. Da diese führende Schicht der Werktätigen des sozialistischen Staates sich aber den Service zunutze machte und mehr und mehr dazu überging, ihre lebendigen Erzeugnisse dort zu „vergessen“ bzw. mehr Spätschichtwochen vorzutäuschen als anfielen, wurde das Experiment nach wenigen Probejahren beendet.

In der nächsten Heimatkundestunde bekamen wir ohne alle Vorwarnung die folgende Geschichte erzählt:

Als ich noch eine ganz junge Lehrerin war, war gerade der Krieg vorbei. Neben mir wohnte ein sehr nettes Ehepaar. Hier in N. waren ja keine Häuser kaputt gegangen. Ihr Sohn war in dem Krieg umgekommen. Die hatten also keine Kinder. Und weil in dem Krieg ganz viele Menschen gestorben waren, hieß es eines schönen Tages: Auf dem Bahnhof, hier in N. kommt morgen ein Transport an mit Kriegswaisen. Kinder, deren Vati und Mutti tot sind. Einwohner von N. bitte helft, damit einige von ihnen ein neues Zuhause finden!
Meine Nachbarn gingen hin. Ich nicht. Wenn ich verheiratet gewesen wäre, vielleicht. Aber meine Nachbarn wollten wieder ein Kind. Am besten ein Mädchen, die müssen später nicht Soldat werden. Und dann geschah folgendes:
Sie fanden ein Mädchen, das so ein bisschen am Rand stand. Das war so alt wie ihr. Sie redeten mit ihm und fragten ob es mitgehen wollte. Es nickte, aber es freute sich nicht.
Und da fragte meine Nachbarin: „Freust du dich denn gar nicht ein bisschen?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Warum denn nicht?“
„Ich hab doch noch einen kleinen Bruder.“
„Wo ist denn der?“
Da pfiff das Mädchen und ein kleiner Knirps in Lederhosen erschien.
Was nun? Meine Nachbarn wollten ja nur ein Kind nehmen…

Frau O. unterbrach: „Was hätten sie tun soll’n? Die Geschwister trennen?“
Die 2a hatte gebannt gelauscht. Und antwortete wie im Puppentheater im Chor: „Neeeeeiiiin!“

Frau O. fuhr fort:

„Meine Nachbarn berieten sich eine Weile und sagten dann: Kommt einfach beide mit.
Aber die beiden senkten die Köpfe und freuten sich nicht.
„Was ist denn noch?“
Da antwortete das Mädchen: Wir haben noch einen Bruder. Er hier ist ein Zwilling.“

Frau O. sah in die Runde der 2a und auch wir hatten 2×2 Zwillinge unter uns.
„Was hätten sie tun sollen? Sie wollten nur ein Kind? Sollten sie jetzt mit 3 Kindern nach Hause gehen?“

Sie hatte uns im Griff. Die Antwort war „Jaaaah!“

Frau O. beendete die Geschichte:

„Meine Nachbarn kamen mit 3 Kindern nach Hause.
Alle 3 wurden meine Schüler. Sie waren gute Schüler. Wenn meine Nachbarn nicht gewesen wären, wären sie ins HEIM gekommen! Ich will nie wieder hören, dass hier irgendjemand einen Mitschüler als Heimkind beschimpft! Heimkinder haben es schwerer als ihr!“

Damit war die Heimkindschimpfwortwelle tot.
Aber nicht das Schimpfen an sich.

Ein paar von uns wohnten am Dom. Die schwammigen, mittelalterlichen Bruchbuden der Kirche dort beherbergten einige „Großfamilien der besonderen Art“. Die Kinder von da waren stets von einer Duftwolke aus Schimmelpilz und kaltem Zigarettenrauch umgeben und grober gestrickt als der Rest der Klasse. Die unbedarfte Katrin zum Beispiel. Die brüllte noch einmal kurz darauf Ramona mit „Heimkind!“ an und erntete Trommelfeuer von mehreren Seiten: „Ey! Fetzt nich’mehr! Hast nicht gehört, was Frau O. gesagt hat?!“, „Ey du Dreckstück! Das dürfen wir nicht mehr sagen!“, „Auweia, das sagen wir Frau O.!“ bis Andree eingriff, mit der klugen Erkenntnis: „Ey, lasst die doch in Ruhe! Die kapiert das nicht! Die is’ vom Dom!“ Prompt kam von irgendwoher der Einfall: „Domkind!“ Und damit war die nächste Welle geboren.

Warum ich diese Geschichte nicht vergessen habe, hat mit einer Nebenwirkung ganz anderer Art zu tun: Ich war zu diesem Zeitpunkt noch Einzelkind und wünschte mir Gesellschaft rund um die Uhr. Man würde sich ein Kinderzimmer teilen und vor dem Einschlafen Witze erzählen können!
Könnte nicht auch jetzt noch der Fall eintreten, dass am Bahnhof wieder ein Zug voller Waisenkinder einfährt? In Vietnam ist doch gerade Krieg?! Dann hätt’ ich ne vietnamesische Schwester! Später könnte ich die sogar heiraten!
Als Alternative fiel mir ein: Amerika wollte doch immer seine Indianer loswerden! Es kommt ein Zug mit Indianerwaisen in N. an und ich bekomme einen Dakota-Bruder, der knapp älter ist als ich und alle die verdrischt, die mich Brillengeier nennen! Jaaaaa! Ich hörte bereits die Nasenbeine brechen! DAS wär’s gewesen!
Aber es blieb Phantasie.

6 Gedanken zu “Unterstufenkrieg

  1. Ich habe nichts Bedeutungsvolles dazu zu sagen, aber ich lese Ihre Geschichte(n) gerne.

    Der Umgang mit Ihrem Namen gestaltet sich leicht sperrig.
    „Lieber Herr Bludgeon“ hat den etwas besonderen Liebreiz von „Lieber Herr Scharfrichter“ oder „Verehrter Herr Massenmörder“.
    Nur Bludgeon wiederum, kommt ungewollt schroff daher.
    Was tun, als sensibles Gemütchen?

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    • Stimmt. Das ist ein Problem. Aber andere Pseudonyme wollen mir partout nicht einfallen: nach irgendeiner Spielhagenfigur Baron von Randow oder Georg Hartwig – das klingt so uncool … Kinski zu übertrieben… grübel-grübel… einstweilen tut es ja ein Mr. statt der deutsch-bürgerlichen Anredeformen.

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  2. Erinnerungsschublade aufgerissen: Ein Pflegeheim für behinderte Kinder namens Zoar gab es nachbarstadtlich. Und uns fiel nix besseres ein, als rumzuzoarn oder andere als „Zoar“ zu titulieren. Ewig nicht daran gedacht, unlieber doch geschätzter Herr Bludgeon. So, nun weiterlesen, Harka harrt meiner…
    Herzliche Grüße, Ihre Frau Knobloch, blogschmökernd.

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  3. Pingback: Mr. Robertson’s Bestwerk | toka-ihto-tales

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